Neugeburt einer Familie

von Victor Chu
gikPRESS Kassel, Neuauflage 2017

ISBN 9783744836920

Die Wirkung von Verstorbenen in der Familie

Früh und unzeitig verstorbene Angehörige hinterlassen meist eine große Lücke in der Familie. Sie hinterlassen Schmerz, Trauer, Wut, gegenseitige Vorwürfe und Selbstvorwürfe. Sie hinterlassen manchmal eine Lücke, die selbst nach mehreren Generationen immer noch schmerzt. Was geschieht, wenn Menschen ihre Angehörigen verlieren?


Wenn wir Geschwister frühzeitig verlieren

Geschwister zu verlieren, ist für ein Kind mit das Schlimmste, was es erleben kann. Geschwister sind zwar oft die Quelle von Zank und Rivalität. Sie sind aber gleichzeitig unsere wichtigsten Bundesgenossen und Lebensbegleiter in der Kindheit. Vor allem teilen sie mit uns das gleiche Elternhaus und wissen, wie es ist, dort aufzuwachsen. Sie sind, neben den Eltern, unsere wichtigsten Bezugspersonen. In gewisser Weise sind sie uns noch näher als die Eltern, weil wir auf der gleichen Ebene stehen.

Geschwister fühlen sich wie die Äste an einem und demselben Baum. Wenn ein Ast abgesägt wird, haben die übrigen Angst, ebenfalls der Säge zum Opfer zu fallen. Dies wurde mir deutlich, als ich einmal mit erlebte, wie ein Kind die Todesnachricht seines jüngeren Geschwisters (das schwer krank gewesen war) erhielt. Es rief spontan: „Jetzt muss ich auch sterben!“ Das Gefühl, gemeinsam zu leben und gemeinsam zu sterben, kann unter Geschwister äußerst stark sein. Es ist wie eine Art Geschwistersymbiose.

Deshalb hat das Kind, das sein Geschwister verliert, das Gefühl, auch mit sterben zu müssen. Wenn schon das Geschwister stirbt, dann ist sein Leben ebenfalls in Gefahr, selbst wenn es bei bester Gesundheit ist. Das Gefühl der Unverwundbarkeit, mit der wir als Kinder von Natur aus ausgestattet sind, weicht einem Gefühl latenter Bedrohung, ja der Todesnähe.

Dazu kommt die schmerzliche Sehnsucht nach dem vertrauten Geschwister. Das Kind möchte dort sein, wo sich das verstorbene Geschwister jetzt befindet. Hier taucht eines der größten Hindernisse auf, die uns den Weg in ein unbeschwertes Leben versperren können: die Todessehnsucht. Wer die Todessehnsucht in sich trägt, steht nicht mehr ganz mit beiden Beinen im Leben. Manchmal steht er schon mit einem Fuß im Grab, manchmal schwebt er durchs Leben, nichts scheint ihn mehr sonderlich zu berühren.

Was bei Kindern noch erschwerend dazukommt, ist die Tatsache, dass Kinder noch nicht die emotionale Kapazität besitzen, schwere Schicksalsschläge zu verdauen. Dies ist etwas, was wir erst mit den Jahren mühsam lernen. Kinder sind deshalb noch nicht fähig, große Trauer zu ertragen. Bildlich gesprochen, könnte man sagen, dass ihr inneres Gefäß, in dem sie Trauer halten und fassen können, noch sehr klein ist. Wenn ein Trauerfall sie trifft, droht das Gefäß überzulaufen. Sie könnten vom übergroßen Schmerz weggeschwemmt werden.

Deshalb wenden sich Kinder instinktiv ab, wenn sie vom Tod eines nahen Angehörigen erfahren. Manchmal tun sie so, als hätten sie nichts verstanden. Sie drehen sich um und spielen weiter. Erwachsene meinen dann irrtümlich, sie seien gefühllos. Ihnen läge das verstorbene Geschwister gar nicht so am Herzen, wie man bisher den Eindruck hatte. Die Erwachsenen sind vielleicht sogar erleichtert, dass es dem Kind nicht soviel ausmacht. Dann brauchen sie sich ja nicht soviel Sorgen ums Kind zu machen. Dann kann man sich seiner eigenen Trauer zuwenden.

Es ist aber eher so, dass das Kind seine Trauer tief in sich vergräbt, ja vielleicht sogar abspaltet. Da für Kinder die Grenze zwischen Lebenden und Toten nicht so unverrückbar fest ist wie für Erwachsene, kann das Kind gelegentlich in die andere Sphäre hinübertreten und mit dem verstorbenen Geschwister spielen. Oder dieses besucht es im Diesseits und begleitet es fortan als unsichtbarer Begleiter durchs Leben. Wir kennen die Geschichten von unsichtbaren Begleitern, von denen Kinder erzählen. Manche Experten der Perinatalogie, die das Seelenleben des ungeborenen Kindes erforschen, meinen, Kinder, die später „unsichtbare Begleiter“ haben, hätten möglicherweise ein Zwillingsgeschwister im Mutterleib gehabt, das aber noch vor der Geburt abgestorben ist. Diese Kinder hätten lebenslang das Gefühl, jemand Wichtiges fehle. Sie wissen aber nicht, wer.

Besonders schmerzlich ist es für Kinder, ein älteres Geschwister zu verlieren, das schon immer da war und das sich um sie gekümmert hat. Mit dessen Tod geht ihnen eine Quelle von Halt und Trost verloren. Auch ein jüngeres Geschwister, auf das sich ein Kind sehr gefreut hat, durch eine Fehlgeburt oder einen frühen Tod zu verlieren stellt einen unersetzbaren Verlust dar.

Das verstorbene Kind wird von den Eltern gegenüber den lebenden Kindern oft totgeschwiegen, weil sie meinen, diese könnten es nicht ertragen. Manchmal verschweigen sie auch ein ungeborenes Kind, weil sie sich dessen schämen oder sich schuldig fühlen (zum Beispiel nach einer Abtreibung). Manchmal sind die Eltern einfach selbst von ihrem Schmerz so überwältigt, dass sie sich nicht um das verwaiste Geschwisterkind kümmern können.

Wenn ein Kind in einer Familie stirbt, hinterlässt es auch eine Lücke in der Geschwisterreihe. Bei der Aufnahme des Stammbaumes zu Beginn einer Aufstellung registriere ich solche fehlenden Kinder manchmal durch größere Lücken zwischen den Geburtsjahren der lebenden Geschwister (deshalb ist es mir wichtig, auch die Geburtsjahre der Geschwister zu erfahren). Dann frage ich dezidiert nach, ob es noch andere Schwangerschaften der Mutter gab, ob es ungeborene oder früh verstorbene Geschwister gab. reagieren überrascht auf eine solche Frage: sie haben die verstorbenen Geschwister gar nicht mehr dazugerechnet.

Wenn man jedoch die verstorbenen oder ungeborenen Kinder mit aufstellt, dann merkt man erst, welche Lücke sie hinterlassen haben und welche Bedeutung sie für viele, wenn nicht alle Mitglieder der Familie gehabt haben und immer noch haben. Ihre Bedeutung wird manchmal völlig ins systemische Unbewusste verdrängt. Von dort her haben sie möglicherweise schwerwiegende Wirkung auf das Befinden der Zurückgebliebenen und auf die Atmosphäre in der Familie.

Fast jedes Mal wird das vermisste Kind von der Familie herzlich empfangen. Oft können die nunmehr erwachsenen verwaisten Geschwister ihre Trauer endlich zulassen, wenn sie das geliebte Geschwister wieder in den Arm schließen. Es sind sehr bewegende Momente des Wiedersehens.

Bei der Aufstellung ist es mir wichtig, das verstorbene Geschwister wieder hierher ins Leben zurückzuholen. Ich lasse seinen Stellvertreter zum Beispiel zum lebenden Geschwister sagen: „Ich lasse dich nie mehr allein. Ich war schon immer bei dir. Auch wenn ich unsichtbar bin, kannst du mich bei dir spüren.“ Ich hole den Verstorbenen wieder ins Leben und integriere ihn ins Leben des Zurückgebliebenen, damit dieser nicht in Versuchung kommt, aus diesem Leben ins Jenseits gehen zu wollen, um dort das verstorbene Geschwister zu finden. Das überlebende Geschwister kann sich zum Beispiel ausrechnen, wie alt sein verstorbenes Geschwister mittlerweile wäre, und sich vorstellen, wie es mit ihm langsam älter wird und überall mit dabei ist, wann immer es sich wünscht.

Dies entspricht tatsächlich meiner Erfahrung aus vielen Aufstellungen: Die Toten sind immer bei uns. Sie sind da, wenn wir sie rufen. Wir können wortlos mit ihnen in Kontakt treten, übers Gespür, übers innere Empfinden, auch über unsere Träume. Wenn wir einen geliebten Menschen verloren haben, besteht der größte Irrtum darin, dass wir meinen, er sei verschwunden und nicht mehr erreichbar, weil wir ihn nicht mehr sehen und anfassen können. Aber die Seelen unserer Lieben sind immer um uns und bei uns, solange wir leben.


Wenn wir früh unsere Eltern verlieren

Die eigene Mutter oder den eigenen Vater früh zu verlieren, ist für jedes Kind eine Katastrophe. Denn es verliert die Bezugsperson, die ihm (von der emotionalen Beziehung ganz abgesehen) von der Abstammung her am nächsten steht. Wir stammen alle direkt von unseren leiblichen Eltern ab. Egal, ob wir sie als Kinder gekannt haben oder nicht (manche Mütter sterben bei der Geburt des Kindes, manche Väter sind schon gestorben oder sind im Krieg gefallen, bevor das Kind zur Welt kommt), egal, ob sie gut zu uns waren, egal, ob sie uns selbst aufgezogen oder an andere Erziehungspersonen abgegeben haben – sie sind und bleiben lebenslang unsere Eltern. Sie können von nichts und niemandem ersetzt werden. (Auch wenn Pflege- oder Adoptiveltern wichtig sind, sie können in einer Familienaufstellung nicht die Stelle der leiblichen Eltern einnehmen.)


Wenn eine Mutter früh gestorben ist

Deshalb hinterlässt ein früh verstorbener Elternteil eine nicht zu schließende Lücke. Natürlich macht es einen Unterschied, ob es die Mutter oder der Vater ist. Die Mutter war unsere erste Beziehungsperson. Mit ihr waren wir schon während der Schwangerschaft aufs Innigste verbunden. Wir lebten in ihrem Leib. Wir erlebten alle ihre Stimmungen mit, weil die meisten mütterlichen Hormone direkt über die Blutbahn zum Kind gelangen. Wir waren von der Zeugung an auf sie eingestimmt. Fällt die Mutter aus, dann verlieren wir den Menschen, mit dem wir von Anfang an verbunden waren. (Eine solch innige Beziehung hat man wohl nur noch zu seinem Zwillingsgeschwister.)

Diese innige intrauterine Bindung wird durch das Stillen und die Fürsorge der Mutter nach der Geburt fortgesetzt und gefestigt. Die Mutter-Kind-Symbiose stellt die Grundlage für das leiblich und seelisch empfundene Gefühl dar, in dieser Welt sicher gehalten, geborgen und beheimatet zu sein. Sie gibt dem Kind das Urvertrauen in sich und in die Welt. An der Mutterbrust und im Mutterschoß kann sich das Kind fallen lassen, wohlige Wärme durchströmt es, der ganze Körper entspannt sich, die Welt ist in Ordnung, es kann ruhig einschlafen.

Auch wenn das Kind älter wird, bleibt die Mutter die Lebensbasis, von der es in die Welt gehen und zu der es zurückkehren kann. Die Bindungstheoretiker nennen die Mutter „den Hafen der Sicherheit“. Von ihr aus dehnt sich das Vertrauen auf die ganze Welt aus. Fürs Kind bedeutet es: „Es gibt einen Ort auf dieser Welt, an dem ich völlig sicher und geborgen bin.“ Mit zunehmendem Alter verinnerlicht das Kind die Mutter in sich. Es wird zunehmend sich selbst bemuttern und trösten können, selbst wenn es weit weg von zuhause ist, selbst wenn die Mutter verstorben ist. Aber dafür muss das Kind die Mutter genügend lange erlebt und bei sich gehabt haben.

Es ist daher ein großes Unglück, wenn die Mutter eines kleinen Kindes für längere Zeit (etwa durch eine schwere Krankheit) ausfällt oder gar stirbt. Das Kind verliert seine tiefste Wurzel. Es erlebt sich als ein ganzes Stück entwurzelt. Damit wird es den Stürmen des Lebens weniger standhalten können, es ist Ängsten und Unsicherheiten mehr ausgeliefert. Es ist auf sich selbst zurückgeworfen, was Schutz, Trost und Beistand anbetrifft. Es muss quasi ein Stück sich selbst bemuttern, bevor es die Mutter ausreichend internalisiert hat. Das Kind wirkt zwar vielleicht nach außen selbstsicher, aber innen ist es voller Angst.

Natürlich hängt das Schicksal des Kindes sehr von den übrigen Lebensumständen ab. Wenn der Vater und andere Bezugspersonen da sind, können sie die Mutter ein Stück weit ersetzen, aber es ist immer nur ein Stück weit. Die ganze Mutter können sie nicht ersetzen.

Daher ist die Wiederbegegnung mit der verstorbenen Mutter in einer Familienaufstellung ein besonders eindringliches Erlebnis. Es ist wie ein Nach Hause Kommen nach einer Ewigkeit. Dabei ist es nicht selten, dass das erwachsene Kind erst durch Schichten von Zweifel, Vorwurf und Misstrauen hindurchgehen muss, bis es sich traut, sich der Mutter wirklich zu nähern. Es muss durch den heftigen Schmerz hindurch, der durch den Verlust der Mutter ausgelöst worden ist, und den es tief in sich vergraben hat – wir haben oben schon gesehen, dass ein Kind noch nicht das innere „Gefäß“ hat, um so starke Gefühle auszuhalten, deshalb musste es seine Trauer verdrängen. Wir kennen dieses Phänomen bereits bei Kindern, die nur wenige Tage oder Wochen von ihrer Mutter getrennt sind, dass sie beim Wiederauftauchen der Mutter sich desinteressiert, ablehnend oder aggressiv dieser gegenüber verhalten. Um wie viel stärker ist die innere Abwehr, wenn eine längst verstorbene Mutter wieder auf der Bildfläche erscheint! Das Kind braucht Zeit und Geduld, bis es endlich wagt, sich der Mutter anzunähern und schließlich bei ihr anzukommen.

Noch schwerer ist es für Kinder, die ihre Mutter bei ihrer Geburt verloren haben. Hier spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Zum ersten haben sie die Mutter zwar intrauterin gekannt, aber nie als ein Gegenüber wahrnehmen können. Als erste Bezugsperson haben sie vielleicht den Vater, die Großmutter oder eine andere Betreuungsperson zu Gesicht bekommen. Sie sind auf diese „geprägt“. Von der Mutter gibt es überhaupt keinen Ein-Druck in ihrer Seele. Sie ist ihnen gänzlich fremd (ganz im Gegensatz zu den Kindern, die ihre Mütter schon eine Weile gehabt haben, bevor sie sie verloren). Deshalb stellt sich als Reaktion erst mal Fremdheit, Unglauben (dass dies überhaupt ihre Mutter sein kann – denn das Kind hat sich in seiner Phantasie die Mutter vielleicht ganz anders ausgemalt) und größte Skepsis ein. Die beiden müssen erst einmal Zeit haben, um sich gegenseitig kennen zu lernen. (Es dürfte bei Kindern ähnlich sein, die sofort nach ihrer Geburt zur Adoption abgegeben wurden. Auch sie haben ihre Mütter als Gegenüber nicht gekannt.)

Dann kommt noch ein bedeutender Faktor dazu. Kinder, die ihre Mutter bei der Geburt verloren haben, fühlen sich häufig schuldig. Sie haben das Gefühl, schuld am Tod der Mutter zu sein. Denn ohne sie würde die Mutter ja noch leben! Die Mutter ist gestorben, weil sie geboren sind. Diese schlichte Ursachen-Wirkung-Verbindung leuchtet unmittelbar ein und prägt sich in das Selbstbild des Kindes ein. Das Kind hat das Gefühl, es hätte die Mutter auf dem Gewissen. Möglicherweise wird es von seiner Umgebung in dieser Vorstellung bestärkt, wenn zum Beispiel der Vater sehr um seine Frau trauert, oder wenn die älteren Geschwister die Mutter sehr vermissen – gerade diese werfen, ebenfalls dem einfachen kindlichen Verständnis folgend, dem jüngsten Geschwister vor, am Tod der Mutter (zumindest indirekt) schuld zu sein.

Auch aus diesem Grund scheut sich das Kind vor der Begegnung mit der Mutter. Aber gerade darin liegt die Erlösung. Denn in den allermeisten Fällen schaut die (Stellvertreterin der) Mutter liebevoll aufs Kind und sagt ihm, dass es nicht seine Schuld sei, dass sie gestorben ist. Sie hat sich das Kind gewünscht, sie hat sich darauf gefreut. Es war schicksalhaft, dass sie bei der Geburt gestorben ist. Es ist ihres und sein Schicksal, dass sie sich nie haben von Angesicht zu Angesicht kennen lernen dürfen. Daher ist es eine schmerzliche, zugleich erlösende Erfahrung, wenn sie sich endlich (wieder-)begegnen.

In all diesen Fällen, in denen das Kind einer früh verstorbenen Mutter wiederbegegnet, ist es schön zu sehen, dass die Mutter das Kind wieder in die Arme schließt, dass sich das Kind endlich loslässt und sich halten lässt. Endlich ist es wieder zuhause.

Natürlich gibt es auch die Fälle, in denen das lang ersehnte Wiedersehen in einer Enttäuschung fürs Kind endet. Es kommt gelegentlich vor, dass die Mutter sich als abweisend oder desinteressiert zeigt. Ich kann zwar die Geschichte der Mutter zurückverfolgen und herausfinden, weshalb die Mutter sich so dem Kind gegenüber fühlt und verhält. Aber es ist keine Gewähr, dass die Mutter tatsächlich mütterliche Gefühle empfindet. Es gibt auch kalte und abweisende Mütter. Das ist eine Realität. Aber selbst dann kann es fürs Kind heilsam sein, zu sehen, wie die verstorbene Mutter in Wirklichkeit ist. Dann kann es sich von seinen unrealistischen Vorstellungen und Wünschen verabschieden. In diesen Fällen schlage ich dem Kind vor, sich vor der Mutter zu verneigen, ihr zu danken für das Leben, das es durch sie erhalten hat, und ihr zu sagen: „Mutter, ich danke dir fürs Leben und alles, was du in der kurzen Zeit, in der wir zusammen waren, für mich getan hast. Ich nehme dies alles mit mir. Das, was du mir nicht geben konntest, werde ich woanders finden.“ Dann kann das Kind sich umdrehen und in sein eigenes Leben gehen, ohne sein Leben lang an einer Illusion hängen zu bleiben.


Wenn ein Vater früh verstorben ist

Der Vater ist, nach der Mutter, die wichtigste Bezugsperson fürs Kind. Er hat das Kind zwar nicht in sich getragen, er kann es nicht stillen, er ist ein Mann und keine Frau, aber alles andere kann er dem Kinde geben. Es ist sehr schön, heute zu sehen, dass immer mehr Männer bereit und gewillt sind, ihren Kindern nahe zu sein, vor allem auch ihnen körperlich nahe zu sein, was in früheren Generationen nicht denkbar gewesen wäre. Der Vater war immer nur Respektsperson, scharf abgegrenzt vom Kind.

Es existiert jedoch eine tiefe, ureigene Liebe des Kindes für seinen Vater, eine archaische, unbegründbare Liebe, die durch kein rationales Argument ausreichend zu erklären ist – weder durch die Tatsache, dass der Vater sein Erzeuger ist, noch die Erkenntnis, dass das Kind die Hälfte seiner Erbanlagen dem Vater verdankt, auch nicht die Erfahrung, dass der Vater fürs Kind materiell sorgt. Denn wir sehen selbst bei Kindern, die ihren Vater niemals gesehen und niemals erlebt haben, die zeitlebens nur Schlechtes über ihn gehört haben, eine tiefe Sehnsucht nach dem Vater, eine Sehnsucht, die sie möglicherweise nicht einmal sich gegenüber eingestehen. In der Familienaufstellung erlebe ich es immer wieder, wie ein erwachsenes Kind, das seinen Vater nie gekannt hat (vielleicht ist dieser im Krieg gefallen, vielleicht hat er die Mutter noch vor der Geburt verlassen, vielleicht hat ihn die Mutter hinausgeworfen), beim ersten Wiedersehen mit dem unbekannten Vater sich sofort emotional öffnet und auf den Vater zugeht. Ich kann aus dieser Reaktion nur auf eine tiefe, schon immer da gewesene Liebe des Kindes für den Vater schließen. Es ist, als fühle das Kind instinktiv, dass es zum Vater gehört.

Auch sehe ich in Familien, in denen ein Stiefvater, ein Adoptiv- oder Pflegevater sich wie ein richtiger Vater ums Kind gesorgt hat und für es da gewesen ist, dass das Kind trotzdem zu seinem leiblichen Vater ein eindeutiges und unverwechselbares Verhältnis hat. Es kann durchaus vorkommen, dass der leibliche Vater das Kind ablehnt oder sich ihm gegenüber gleichgültig verhält. Dann fühlt sich das Kind vielleicht wohler in der Nähe seines Ziehvaters. Aber die Anwesenheit seines leiblichen Vaters ist ihm trotz allem wichtig. Er repräsentiert einen nicht austauschbaren, männlichen Teil seiner Selbst.

Wenn ein früh verstorbener Vater und sein Kind sich in einer Familienaufstellung wieder begegnen, ist es meistens eine bewegende Erfahrung. Das Kind fühlt, genauso wie bei der Mutter, ein tiefes, körperlich spürbares Wiederankommen. Es ist wieder zuhause. Der männliche Teil in ihm – egal ob es sich um einen Sohn oder eine Tochter handelt – wird ganz.

Ein Vater fühlt sich anders an als eine Mutter. Von ihm geht meistens eine kraftvollere Liebe aus, die dem Kind innere Stärke verleiht. Ein Vater fühlt sich handfester an. Das Kind empfängt vom Vater Zutrauen, ein Vertrauen in sich selbst, eine optimistische Haltung, die es ermutigt, in die Welt zu gehen und das Leben zu bestehen: „Ich traue dir zu, dass du es schaffst. Und ich zeige dir wie.“ In der männlichen Kraft liegt auch die Zuversicht, dass man/frau sich im Beruf bewährt und Erfolg hat. In Aufstellungen stelle ich fest, dass die beruflichen Belange häufiger mit dem Vater zusammenhängen als mit der Mutter, sowohl bei Männern als auch bei Frauen. (Dies ist heute noch der Fall. Wie es in 20 oder 40 Jahren sein wird, bleibt dahingestellt. Die Emanzipation der Frau schreitet im Beruf und öffentlichen Leben mächtig voran, so dass Mütter auch diese Bereiche zunehmend erobern. Es könnte sein, dass sie hier bald fürs Kind genauso richtungsweisend sind wie die Väter. Umgekehrt hoffe ich, dass Väter in der Familie den sorgenden und tröstenden Pol mehr für sich entdecken.)


Wenn Eltern ein Kind verlieren

Ein Kind zu verlieren ist für Eltern das Schlimmste auf der Welt. Wir sehen manchmal in Zeitungen Bilder verzweifelter Eltern, die ein Kind bei einer Katastrophe oder im Krieg verloren haben. Es gibt kaum Worte, die diesen Schmerz beschreiben können. Die natürliche Elternliebe gibt alles, was man/frau hat, fürs Kind. Eltern sparen sich alles vom Mund ab, um die eigenen Kinder satt zu bekommen oder ihnen eine gute Schulbildung zu ermöglichen. Sie opfern ihr Leben gerne für ihr Kind. Ein Kind repräsentiert für seine Eltern die Hoffnung und die Zukunft.

Deshalb ist es unbegreiflich, wenn ein Kind vor seinen Eltern stirbt. Irgendwie haben wir das Gefühl, es verstößt gegen die natürliche Ordnung. Es ist zwar traurig, wenn man seine Eltern verliert, aber es passt zu unserem normalen Weltbild, dass die Eltern vor den Kinder gehen. Aber wenn das eigene Kind vor einem geht, ist es so, als würde einem die Zukunft jäh abgeschnitten. Das Leben bricht unvermittelt ab.

Deshalb ist der Verlust eines Kindes eine Erfahrung, die man/frau als Mutter oder Vater schwer verwindet. Das Pietà, jenes Bildnis Marias, die den toten Jesus im Schoß hält und trauert, fällt uns spontan ein. Als Eltern geht man/frau durch ein Tal der Tränen, der Verzweiflung und Trostlosigkeit, das möglicherweise in einer Depression endet. Auch nach Jahren kann der Schmerz unvermittelt wieder auftauchen und die verwaisten Eltern überfallen. Diese Trauer trägt man/frau im Herzen, selbst wenn das Leben weitergegangen ist und andere Verpflichtungen rufen, wie die Fürsorge für die anderen lebenden Kinder. Hier kann die Todessehnsucht besonders stark werden, weil sie gespeist wird von dem natürlichen Wunsch, beim Kind zu sein. Die Lebenskraft, die Eltern normalerweise in ihre Kinder investieren, ist sinnlos geworden. Sie droht leichter zu versiegen.

Daher ist es für manche verwaiste Eltern wichtig, in der Familienaufstellung ihrem verstorbenen Kind noch einmal zu begegnen. Sie fragen es, ob es viel gelitten hat. Sie möchten wissen, ob es ihm jetzt gut geht, wo es auch sein mag. Sie möchten einfach die Verbindung zu ihm wieder finden. Wenn sie das Kind in die Arme nehmen, löst sich der Schmerz in ihnen, sie können weinen und dann das Kind loslassen. „Du wirst immer in meinem Herzen sein“, können sie dem Kind sagen. Dann nehmen sie das Kind in sich auf. Es ist in ihnen, und sie müssen nicht mehr zu ihm hin. Sie können die gemeinsame Zeit, die sie mit dem Kind verbracht haben, in liebevoller Erinnerung behalten, ohne sie glorifizieren oder verdrängen zu müssen.


Die Trauer um ungeborene Kinder

Häufig trauern Eltern, besonders Mütter, aber auch Väter, um ihre ungeborenen Kinder, egal ob diese von selbst abgegangen oder abgetrieben worden sind, egal wie früh oder spät das Kind verloren gegangen ist.

Mutter oder Vater zu werden und das werdende Kind in sich aufzunehmen, ist eine innere Verwandlung, die von einer Sekunde zur anderen stattfindet. Das geschieht blitzschnell. So schnell vollzieht sich auch die emotionale Beziehung zum werdenden Kind. Die Mutter oder der Vater spürt sofort, ob sie/er das Kind liebt oder ablehnt. Es ist eine Reaktion, die man nicht manipulieren oder steuern kann. Daher ist es gleichgültig, wie früh oder wie spät man das Kind verloren hat. Eine emotionale Beziehung zu ihm hat man vom ersten Augenblick an, an dem man von der Schwangerschaft erfährt oder das Kind in sich spürt.

Da man das Kind aber nicht als Kind gesehen hat, und da wir landläufig meinen, ein ungeborenes Kind sei noch kein richtiges Kind, verdrängt die Mutter oder der Vater leicht das verstorbene Kind. Dann bleibt es wie eine innere Wunde in ihr oder ihm. Esist ein Schmerz, der nie herauskommen darf.

Besonders wenn das Kind abgetrieben worden ist, fühlen sich Eltern häufig schuldig. (Schuldig können sich Mütter auch schon bei Fehlgeburten fühlen. Sie werfen sich gelegentlich vor, dass sie nicht genügend aufgepasst hätten, dass sie sich zu viel zugemutet hätten, dass sie die Schwangerschaft nicht früh genug registriert oder ernstgenommen hätten. Stärker ist jedoch das Schuldgefühl, wenn man das Kind hat abtreiben lassen, weil man sich willentlich gegen das Kind entschieden hat.) Dieses Schuldgefühl hindert häufig vor allem die Mutter daran, ihre Trauer ums Kind zuzulassen. Sie meint oft, sie hätte kein Recht dazu, traurig zu sein, weil sie ja das Kind nicht gewollt hat. Die Gründe für eine Abtreibung sind jedoch vielfältig und meist komplex. Oft stehen Argumente gegen ein Kind dem inneren Wunsch, es zu behalten, gegenüber. Meist ist es eine schwere Entscheidung, und der Wunsch, das Kind zu behalten, erleidet im Fall einer Abtreibung eine Niederlage. Bei manchen Eltern kommt die Reue und das Bedauern, dass sie das Kind für immer verloren haben, erst nachdem sie diesen unwiderrufbaren Schritt vollzogen haben. Aber dann geben sie sich selbst die Schuld und verbieten sich, traurig zu sein.

Verdrängte Trauer ist jedoch wie eine schwelende Wunde, die nie verheilt. Daher ist es gut, auch wenn es schmerzlich ist, in einer Aufstellung dem Kind noch einmal zu begegnen. Wenn die Mutter oder der Vater bereit ist, sich mit dem verstorbenen Kind und den Gefühlen, die mit dessen Verlust verbunden sind, zu konfrontieren, kommt es oft zu einer guten Lösung. In den meisten Fällen nimmt das ungeborene Kind es den Eltern nicht übel, oder es hat sich bereits mit seinem Schicksal abgefunden. Es gibt den Eltern vielleicht einen Stein für die Abtreibung. Dann legt sich sein Groll. Sein wichtigster Wunsch besteht darin, einen Platz im Herzen der Eltern zu haben, damit es nicht vergessen wird. Häufig setzt sich das Kind an die Beine der Eltern und lehnt sich mit dem Rücken an sie. Die Eltern können ihre Hand auf seinen Kopf legen. Das Kind und seine Eltern kommen innerlich zur Ruhe und in Frieden mit dem, was geschehen ist. Sie sind wieder zu dritt, auch das Paar findet sich wieder zusammen in seiner gemeinsamen Trauer. (Denn häufig hat sich über eine Abtreibung oder eine Fehlgeburt das Paar entzweit, weil da etwas Wichtiges, das aus ihrer Zweierbeziehung hervorgegangen ist, verloren gegangen ist. Wenn es dem Paar nicht gelingt, gemeinsam zu trauern, fällt die Beziehung häufig auseinander.)


Wenn wir einen Partner/eine Partnerin verlieren

Wenn wir einen Partner oder eine Partnerin verlieren, ist es so, als ob man auf einer Reise, zu der man gemeinsam aufgebrochen ist, sich plötzlich allein wiederfindet. Zu dem Gefühl von Trauer und Schmerz gesellt sich der Zorn, vom Partner im Stich gelassen zu sein. Man ist enttäuscht und wütend darüber, dass man plötzlich mit dem gemeinsamen Projekt alleingelassen worden ist (der Familie, den Kindern, dem Haus). Dieses Gemisch an widersprüchlichen Gefühlen verhindert oft eine aktive Auseinandersetzung mit dem Verlust. Wenn wir das Bild der Reise zur Hilfe nehmen, kann es sein, dass man gerade unterwegs ist und die Reise fortsetzen muss. Dann hat man möglicherweise nicht genügend Zeit, um zu trauern. Die Kinder müssen versorgt werden. Die Frage nach der materiellen Sicherung muss gelöst werden. Die Schulden müssen abbezahlt, das Haus muss fertiggebaut oder verkauft werden.

Die steckengebliebene Trauer bleibt tief stecken, wie ein Stachel im Fleisch. Denn eine Liebesbeziehung ist nicht eine x-beliebige. Sie ist, wenn sie eine Herzensbeziehung war, diejenige, die wir als Erwachsene frei gewählt und gewollt haben. Darin unterscheidet sie sich von den Familienbanden, die allein durch Geburt, ohne unser bewusstes Zutun, zustande gekommen sind. Die Liebesbeziehung ist die einzige intime Beziehung, die wir frei eingehen.

Gegenüber der Freundschaft, die uns ebenfalls nahe am Herzen liegt, unterscheidet sich die Liebesbeziehung durch Erotik und Sexualität, in der sich nicht nur das Biologisch- Triebhafte in uns äußert, sondern sich die höchste sinnliche Vereinigung mit einem anderen Menschen verwirklicht. Darin verschmelzen wir körperlich, geistig und seelisch mit dem Anderen. Wenn wir Glück haben, erzeugt diese Vereinigung sogar neues Leben.

Der Liebespartner ist auch derjenige, der uns auf der gleichen Ebene begegnet. Dies unterscheidet eine Partnerschaft von der Eltern-Kind-Beziehung, die stets asymmetrisch ist. Wir tauschen unsere persönlichsten und intimsten Gefühle und Gedanken mit unserem Geliebten aus. Mit ihm pflegen wir die intensivste Kommunikation.

Zugleich ist er derjenige, mit dem wir den Alltag teilen. Die täglichen Begegnungen geben uns die Möglichkeit, große und kleine Ereignisse, banale und Herzensangelegenheiten, Sorgen mit den Kindern und der Arbeit miteinander zu teilen. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Geteilte Freude ist doppelte Freude. Verwitwete Menschen und Alleinlebende vermissen am meisten die kleinen Gesten der Zärtlichkeit, die alltägliche Möglichkeit, das Leben mit jemandem zu teilen.

Zuletzt ist die Partnerschaft, besonders wenn man eine Familie gründet, ein gemeinsames Lebensprojekt, in das man alles hineingibt, was man hat – seine Zeit, sein Geld, seine Lebensenergie. Das Versprechen, das Leben gemeinsam zu meistern, bringt eine ganz andere Kraft in uns hervor, als wenn wir es allein gehen müssen.

Aus all diesen Gründen hält die Liebesbeziehung einen einzigartigen Platz in unserem Leben inne. Nicht umsonst versprechen wir beim Eingehen einer Ehe (egal ob mit einem gleich- oder gegengeschlechtlichen Partner), dass wir mit dem Partner durch dick und dünn zu gehen bereit sind, bis uns der Tod scheidet. Kinder werden erwachsen und gehen in die weite Welt. Eltern altern und sterben. Aber unser Partner bleibt. Wir erwarten und richten uns darauf ein, dass wir mit ihm alt werden, dass wir dann, am Lebensabend, die Ernte unseres gemeinsamen Lebens einfahren können.

Wenn der Partner aber frühzeitig stirbt, dann hinterlässt er einen tiefen Riss in unserem Herzen sowie in unserem realen Leben. Nicht selten schrumpft der Zurückgebliebene und geht buchstäblich wie eine welke Pflanze ein. Das Leben verliert seine Farbe, nicht selten gar seinen Sinn. Bei alten Menschen, die ihren Partner verlieren, beobachten wir oft, dass sie ihm rasch nachfolgen. Aber selbst wenn der Zurückgebliebene jung ist und weiterlebt, kann es vorkommen, dass er seine Trauer tief in sich versteckt, nach außen ein fröhliches Gesicht macht, vielleicht einen nächsten Partner findet. Dennoch könnte es sein, dass etwas Wesentliches in ihm erloschen ist. Dies merkt der neue Lebensgefährte am deutlichsten: dass der Betreffende „nicht ganz bei ihm ist“, dass er gelegentlich wie abwesend erscheint, dass er irgendwie wie „besetzt“ wirkt. Darunter leidet nicht nur der neue Partner, sondern auch die Kinder, wenn sie eine neue Familie gründen. Auch wenn alles scheinbar gut läuft, fehlt irgendetwas Entscheidendes.

Dies wird bei einer Familienaufstellung klar, wenn man den Ex-Partner aufstellt. Dann hellt sich das Gesicht des Zurückgebliebenen auf einmal auf. Er beginnt zu strahlen und geht zum Verstorbenen. „Ich habe dich so vermisst. Du bist es, mit dem ich zusammen sein möchte. Alles andere ist nur Ersatz.“ Dann kommt alles wieder an seinen Platz. Mit dem verstorbenen Ex-Partner an der Seite verwandelt sich die betreffende Person. Sie schaut dann aus der Entfernung auf ihren neuen Partner. Manchmal wird es klar, dass sie beim verstorbenen Partner bleiben will. Dann muss ihr späterer Partner ohne sie auskommen. Manchmal ist sie bereit, sich endlich vom verblichenen Partner zu verabschieden und zu ihrer jetzigen Partnerschaft zurückzukehren. In Familienaufstellungen zeigt sich oft, dass solche vergangenen Beziehungen eine ungeheure innere Wirkung auf die jetzige Familienkonstellation haben können. Daher frage ich bei der Aufnahme des Stammbaumes stets danach, ob die Eltern des Protagonisten einmal einen anderen Partner gehabt haben.


Wie unbetrauerte Vorfahren sich auf die heute Lebenden auswirken können

Nun beeinflusst uns nicht nur der Verlust derjenigen Angehörigen, die wir persönlich gekannt haben (unsere Eltern, Geschwister, Kinder und Partner), sondern eigentümlicherweise auch der Tod derjenigen Vorfahren, die von ihren nächsten Angehörigen nicht betrauert worden sind oder deren Schicksal nicht bereinigt worden ist. Dies ist etwas, was erst durch die systemische Familientherapie entdeckt worden ist. Es scheint, als würde das persönlich nicht Verarbeitete ins systemische Unbewusste herabsinken und von dort aus sein Unwesen treiben.

Es gibt dafür drastische Beispiele, etwa wenn man einen Urahnen aufstellt, der ein schweres Verbrechen begangen hat. Wenn dies ungesühnt geblieben ist, könnte es sein, dass ein Nachfahre körperlich oder psychisch schwer krank wird. Oder es könnte vorkommen, dass ein Enkel- oder Urenkel sich in die gleiche Richtung wie der Ahne entwickelt und ebenfalls delinquent wird. Häufig kommen in den Folgegenerationen Suchterkrankungen vor – die Nachfahren versuchen damit, sich von den für sie unerklärlichen seelischen Qualen und Nöten, von denen sie immer wieder befallen werden, zu befreien oder sich zumindest zu betäuben.

Denjenigen Nachfahren, der ein ähnliches Symptom oder Verhalten wie der Vorfahre aufweist, bezeichnet man im Familienstellen als einen, der mit diesem Ahnen identifiziert ist. Dies ist ein anderer Vorgang als wenn er sich mit diesem identifiziert, denn das wäre eine persönliche Entscheidung. Wenn er mit dem Vorfahren identifiziert ist, dann tritt er, ohne dass er davon eine Ahnung hat und etwas dafür kann, in dessen Nachfolge. Er nimmt blind seine Stelle ein. Es scheint, als würde ein wohlgehütetes Familiengeheimnis oder ein Familientabu auf diese Weise wieder an die Oberfläche treten und sich zeigen. Das alte Drama re-inszeniert sich, wenn auch mit neuen Schauspielern und in neuen Gewändern, aber ihre essentielle Aussage ist die Gleiche. Sie erinnert die Lebenden, dass ein Kapitel in der Familienchronik noch nicht abgeschlossen ist. Dieses Phänomen kennen wir aus dem persönlichen Unbewussten:

Das Verdrängte taucht irgendwo irgendwann völlig unerwartet wieder auf, zum Beispiel in Form einer Fehlleistung. Oder, wie man es in Psychokreisen scherzhaft ausdrückt: „Das Unbewusste hat wieder mal zugeschlagen!“

Dies ist für ein Individuum, das von seinem eigenen Verdrängten bedrängt wird, unangenehm genug. Aber man könnte in diesem Fall noch sagen, der Betreffende muss seine eigene Suppe auslöffeln. Beim systemischen Unbewussten trifft das Verdrängte aber einen völlig Unschuldigen, ein spätergeborenes Kind, das überhaupt nichts mit dem damaligen Drama zu tun hat, und es muss für das Vergangene büßen.

Hier kann das Familienstellen helfen. Indem man die Spur bis zu dem damaligen Ereignis und zu den damals beteiligten Personen zurückverfolgt, um das alte Drama zu einem guten Ende zu bringen, kann das Rätsel aufgelöst, das Familiengeheimnis gelüftet und die Luft bereinigt werden. Es wirkt dann wie eine Katharsis, eine Welle, die durch die nachfolgenden Generationen hindurchfegt, um dann endlich zur Ruhe zu kommen.

Manchmal kommen mir solche Aufstellungen wie die Austreibung eines bösen Geistes vor. Vielleicht haben sie tatsächlich etwas damit zu tun. Dafür bin ich kein Experte. Aber ich kann die reinigende Wirkung einer solchen Aufstellung wahrnehmen, und ich bin froh, dass wir in der Psychotherapie über ein solches Mittel verfügen. Manche Teilnehmer haben deshalb in ihrer Rückmeldung (siehe später) das Familienstellen als „machtvolles“ oder „mächtiges“ Instrument bezeichnet, mit dem man mit Sorgfalt und Erfahrung umgehen sollte. Dem kann ich nur zustimmen.

Es gibt jedoch in Familien nicht nur böse, sondern auch gute Geister. Wenn wir nämlich in die Familiengeschichte eintauchen, begegnen wir gelegentlich unerwartet Vorfahren, die einem heute lebenden Nachfahren gut gesonnen sind. Sie stärken diesen mit ihrer Liebe und ihrer Kraft. Schon mehr als einmal kam in einer Aufstellung die Rettung von einer unerwarteten Quelle, wie die Fee im Märchen. (Märchen sind sowieso verdichtete Menschheitserfahrungen.) Es kann eine unscheinbare, bescheidene Großmutter oder Großtante sein. Es kann ein Onkel sein, den man nie richtig ernst genommen hat. Aber diese alten Seelen werden wieder lebendig, um ihren später geborenen Angehörigen beizustehen. Es fühlt sich dann tatsächlich wie im Märchen an, wenn man ihre Hilfe annimmt.

Soweit zu der Wirkung Verstorbener in der Familie. Ich hoffe, damit einen Eindruck für die Tiefe und die Macht unserer Beziehungen zu Verstorbenen vermittelt zu haben. Im Familienstellen finden wir einen einzigartigen Zugang zu ihnen, einen Zugang, der sehr lebendig, sehr prägnant und außerordentlich wirksam ist.

 

Victor Chu
Dr. med. Dipl. Psych.
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