Vaterliebe

Klett-Cotta 2016

ISBN 978-3-608-98063-9

Das Leben geht nicht linear. Es verläuft spiralförmig. Solange man keine Kinder hat, erscheint das Leben wie eine gerade Linie, die mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet. Wenn man Eltern wird, merkt man, dass man dorthin zurückkehrt, wo man gestartet ist. Diesmal befindet man sich aber in der komplementären Rolle. Damals waren wir Kinder und hatten Eltern, die uns versorgten und für uns da waren. Heute sind wir die Eltern und sorgen für unsere Kinder. Jetzt sind sie die Jungen, Dynamischen, die vorwärts stürmen, während wir, wie die zweite Stufe einer dreistufigen Rakete, zurückfallen. Die erste Stufe waren unsere Eltern, die schon längst zurück zur Erde gefallen sind. Nun sind wir diejenigen, die zurückbleiben und unseren Kindern viel Glück auf ihrer Lebensreise wünschen.

 

Wenn wir Eltern werden, realisieren wir, wie sich das Leben fortsetzt, von Generation zur Generation. Nicht wie eine ewig gleiche Wiederholung. Zwar wiederholt sich manches. Wir erkennen in der Art und Weise, wie wir unsere Kinder behandeln, und in den Liedern, die wir unseren Kindern singen, vieles, was wir einst von unseren Eltern aufgenommen haben und nun weitergeben. Aber wir tun etwas Neues, etwas Persönliches hinzu. Wir verwerfen Altes, etwa überkommene Erziehungsmethoden, die wir nicht mehr für zeitgemäß halten. verleihen dem Elternsein unsere eigene Note. Gleichzeitig haben wir das Gefühl, dass vieles, was wir als Eltern tun, nicht allein von uns stammt, sondern von ganz weit aus der Vergangenheit herüberweht.

 

Als »Raketenstufe« fühlen wir uns wie ein Zwischenglied in einer endlos langen Kette. Wir nehmen die Energie von hinten auf, integrieren und verwandeln sie in uns, um sie dann an unsere Kinder weiterzugeben. Und wie eine Raketenstufe können wir spüren, ob die Schubkraft von hinten stark oder schwach ist. Ist sie stark genug, dass wir gut vorwärts kommen und sie weitergeben können? Oder ist sie so schwach, dass wir in unserem eigenen Leben stagnieren und verzagen, kaum fähig, irgendetwas in die Zukunft zu investieren? Die Schubkraft von hinten entscheidet auch darüber, ob wir uns zutrauen, Kinder zu bekommen oder nicht.

 

Dabei spielt die Vaterliebe eine entscheidende Rolle. Wie wichtig Mutterliebe ist, wissen wir heute hinlänglich. Die Mutter spielt zu Recht die zentrale Rolle im Heranwachsen eines Kindes. Vom Moment der Zeugung an ist sie dem Kind ganz nahe. Dies setzt sich fort in der Schwangerschaft, der Geburt und der Stillzeit. Darüber wird jedoch der Vater oft übersehen, wie auf den Weihnachtsbildern, wo sich alle Aufmerksamkeit aufs Christkind und seine Mutter Maria konzentriert, aber Joseph höchstens als Nebenfigur im Hintergrund zu finden ist.

 

Ist der Vater wirklich so unwichtig? In der Christusgeschichte wird die Vaterschaft Josephs verleugnet. Jesus stamme von Gott, aus einer Jungfrauengeburt. Joseph sei nur sein Ziehvater, ein gutmütiger Trottel, der bereit ist, sich seiner von wem auch immer geschwängerten Partnerin väterlich (!) anzunehmen und deren Kind großzuziehen. In manchen Darstellungen schaut Joseph aus gebührender Distanz gar skeptisch auf die Anbetung seines Stiefsohnes und dessen Mutter durch die Hirten und die Weisen aus dem Morgenland. Ihm gilt deren Verehrung nicht, das ist klar!

 

Die stiefväterliche Behandlung Josephs wirft exemplarisch ein Licht auf die Art und Weise, wie Väter heute im Allgemeinen angesehen werden: Sie werden nicht selten als notwendiges Übel betrachtet. Eine wichtige Beigabe, damit Mutter und Kind materiell versorgt sind. Vielleicht auch noch als männliche Bezugsperson fürs Kind, die aber zur Not durch andere männliche Bezugspersonen ersetzbar sind. Da nicht jedes Kind göttlichen Ursprungs ist, braucht man eben einen irdischen Erzeuger. Auf eine derartig schmale Bedeutung reduziert, nimmt es nicht wunder, dass viele Väter dazu neigen, sich selbst wegrationalisieren. Sie versorgen ihrer Familie zwar mit dem materiell Notwendigen, aber persönlich treten sie kaum auf. Wie einst Joseph halten sie sich im Hintergrund und überlassen die Kinder der Obhut der Mutter. Manche Väter kümmern sich zwar hingebungsvoll um Mutter und Kind, aber sie tun dies wie ein aufmerksamer Butler, der keine Beachtung für sich zu beanspruchen wagt. Ein Butler ist jemand, der unsichtbar ist, der aber zur Stelle ist, sobald man ihn braucht. Andere Väter trennen sich auf leisen Sohlen von Mutter und Kind und verweigern jegliche Unterstützung. Vatersein betrachten sie als Unfall oder Unglück.

 

Dabei ist es ein großes Glück, Vater zu sein. Vater zu sein kann den Gipfel darstellen, den ein Mann in seiner Entwicklung erklimmen kann. Aber wie beim Erklimmen eines Berges braucht es Entschlossenheit, Geduld und Durchhaltevermögen. Vater zu sein haben viele Männer nicht am Vorbild ihrer Väter lernen können – weil diese fehlten oder geistig abwesend waren. Es muss dann mühsam durch Versuch und Irrtum erlernt werden.

 

Wenn ein Vater sich in die Betreuung und Erziehung des Kindes engagiert, hat manche Mütter das Gefühl, er stört. Dann kommt leicht Rivalität zwischen Vater und Mutter auf. Dabei geht es beim Elternsein überhaupt nicht um Wettstreit. Richtiges Vater- und Muttersein kann man nur in Zusammenarbeit erreichen. Mütter und Väter können ihre Aufgabe nur dann vollständig erfüllen, wenn der geschlechtliche Gegenpart ebenfalls zur Stelle ist und seinen Teil beiträgt. Wenn man das andere Elternteil beiseite drängt, wird man leicht zur Übermutter oder zum Übervater. Dann gibt es eine Überversorgung auf der einen und eine Unterversorgung auf der anderen Seite. Für ein Kind gibt es nur beide Eltern. Als Kind seiner Eltern fühlt es sich erst vollständig, wenn es beide bei sich und in sich spürt. Wie Yin und Yang gehören Vater und Mutter zueinander.

 

Darum ist es so traurig, dass sich heute immer mehr Eltern trennen. Da die Mutter das Kind in sich getragen hat, da sie es ausgetragen und als Baby versorgt hat, hat sie meist die stärkere emotionale Bindung zum Kind. Deshalb bleibt die Mutter in den meisten Fällen nach einer Trennung beim Kind, und der Vater wird zum Gast.

 

Ein Wochenend- oder Urlaubsvater ist aber kein vollständiger Vater. Er fehlt im Alltag des Kindes. Seine Anwesenheit und seine Präsenz fehlen. In der Seele des Kindes entsteht ein Loch, das manchmal bis zu seinem Lebensende weiter besteht und gefüllt werden möchte.

 

Vaterlosigkeit ist ein Symptom unserer Zeit. Das Patriarchat hat sich, zumindest in Westeuropa, im Laufe der letzten Jahrzehnte allmählich verabschiedet. Wir brauchen  ihm keine Träne nachzuweinen. Es hat ausgedient. Aber mit ihm ist auch das Selbstbewusstsein der Männer zusammengebrochen. Als Konsequenz verschwinden die Väter zunehmend aus der Familie. Jungen fallen gegenüber Mädchen in ihrer Leistungsmotivation zurück und zeigen zunehmend apathische oder antisoziale Züge, während immer mehr Mütter sich als Alleinerziehende wiederfinden und ihre Frau zu stehen haben. So war Elternschaft nicht gemeint.

 

Wir brauchen in der Familie und in der Gesellschaft nicht nur selbstbewusste Frauen, wir brauchen auch selbstbewusste Männer – Männer, die zu ihrer Männlichkeit stehen. Nicht mehr als Macht oder als Dominanz über die Frauen (denn diese sind meist nur Zeichen innerer Minderwertigkeitsgefühle), sondern als klare männliche Kraft, die anders ist als die weibliche. Nicht als Ergänzung, sondern als eigenständige Position.

 

Dabei können wir das Pferd nicht von hinten aufzäumen. Wenn Männer keinen guten Vater erlebt haben, wird es ihnen schwer fallen, selbst ein guter Vater zu werden. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich mir bei unserem ersten Kind vorgenommen habe, es alles anders, alles besser zu machen als mein eigener Vater. Aber am Schluss musste ich zugeben, dass ich vieles ähnlich oder genauso wie mein Vater gemacht habe. Außerdem hat mir das Vatersein sehr viel Mühe gemacht. Ich musste es mir quasi aus den Fingern saugen. Ich wollte für meine Kinder da sein, aber in der Realität zog ich mich häufig zurück, überließ vieles meiner Frau, verschwand in der Arbeit – nicht viel anders als mein Vater es einst getan hat.

 

Aus dieser Erfahrung erwuchs die Erkenntnis: Ich kann nicht einfach aus eigenem Beschluss ein besserer Vater werden. Der Entschluss ist wichtig, aber er ist leider nicht ausreichend. Es war ein Versuch, mich wie einst Münchhausen selbst am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen. Beginnen musste ich mit dem, wovor ich weggelaufen bin: meinem eigenen Vater. Ich musste mich mit meinem Verhältnis zu ihm auseinandersetzen, ich musste auf die Suche nach meinem Vater und dem Vater in mir gehen. Dort war die Quelle für mein eigenes Vatersein. Das war eine anstrengende, mitunter schmerzliche Reise in die Vergangenheit.

 

Vaterliebe ist etwas Unverwechselbares. Sie kann durch nichts ersetzt werden, weder durch Mutterliebe noch durch die Liebe eines Partners oder einer Partnerin. Ein guter Lehrer oder Mentor kann uns zwar auch ein gutes männliches Vorbild sein, aber er kann uns nicht das Gefühl geben, vom eigenen Vater geliebt und gesehen zu werden.

 

Der Blick aus den Augen des Vaters dringt tief in unsere Seele hinein. In ihm fühlen wir uns gespiegelt. Er ist das Original, wir sein Abbild. Wir sind zwar keineswegs eine bloße Kopie von ihm, jeder Mensch ist etwas Einzigartiges. Aber wir tragen seine Züge, wir bewegen uns wie er, wir sprechen wie er. Vom Original erkannt und als seine Fortsetzung wahr- und angenommen zu werden, gibt uns ein Gefühl von Identität und Stimmigkeit. Wir fühlen uns bestätigt, so wie wir sind. Natürlich muss in seinem Blick gleichzeitig die Anerkennung sein, dass er uns als eigenständige Person mit eigenen Wünschen und Interessen respektiert. Wenn wir beides erfahren können – dass wir sowohl seine Fortsetzung als auch eine eigenständige Person sind –, können wir getrost ins Leben aufbrechen und unseren eigenen Weg finden.

 

Das ist Vaterliebe. Darin ist Zuneigung und Identität, Verzicht und Loslassen zugleich. Darin ist die Botschaft enthalten: »Du bist Du – und so wie Du bist, liebe ich Dich. Ich bin Dein Vater, Du bist mein Sohn. Du kommst zwar von mir, aber Du gehst Deinen eigenen Weg, Du lebst Dein Leben. Ich begleite und unterstütze Dich. Ich bin für Dich da, wann immer Du mich brauchst


Inhalt

I. VORBEMERKUNG

Mut zu mehr Kontakt zwischen Kindern und Vätern

Der junge und der alte Vater

Die Krise der Männlichkeit und Väterlichkeit

 

II. ZUR GESCHICHTE DER VÄTER SEIT DEN WELTKRIEGEN

Mein Vater

Familie und Zeitgeschichte: Die Weltkriege und ihre Folgen

Fallbeispiel: Die Kriegsschuld des Vaters

Fallbeispiel: Die Weitergabe der Schuld

Fallbeispiel: Besatzungskind

Aggressivität, Strenge und autoritäres Verhalten der Väter

Männlicher und weiblicher Narzissmus

 

III. VORBEREITUNG AUF DIE VATERSCHAFT

Wozu Kinder? Über den Sinn des Vaterwerdens

Die Entwicklung eines Jungen von der Geburt bis zur Vaterschaft

Fallbeispiel: Abgelehnter Kinderwunsch

Fallbeispiel: Ödipale Beziehung zwischen Mutter und Sohn

 

IV. VATER WERDEN, VATER SEIN

Schwangerschaft – Die Entscheidung für oder gegen das Kind

Die Geburt

Der Vater in der Säuglings- und Kleinkindzeit

Fallbeispiel: Der gewalttätige Großvater

Multitasking, die familiäre Arbeitsteilung

Die vielen Entwicklungsstränge während der Elternschaft

Der Vater in der ödipalen Phase und der Pubertät

Der Vater als berufliches Vorbild

Fallbeispiele: Die Arbeitshaltung des Vaters

Fallbeispiele: Die Laufbahn des Kindes

Fallbeispiel: Die Weitergabe von Erwartungen

Väter und Töchter

Fallbeispiel: Der Adler

Fallbeispiele: Die Bedeutung väterlicher Ermutigung

 

V. VATERFERNE, VATERMANGEL UND VATERSEHNSUCHT

Sollen wir uns an den Vater anlehnen und/oder ihn von uns wegschieben?

Vaterferne und ihre Gründe

Fallbeispiel: Der Niedergang der patriarchalischen Ordnung

Die Sehnsucht des Kindes nach dem Vater

Symptome des Vatermangels bei Männern

Symptome des Vatermangels bei Frauen

Fallbeispiel: Vaterlose Töchter

Fallbeispiel: Marilyn Monroe

 

VI. DIE BEZIEHUNG ZUM VATER ERNEUERN

Odyssee und die Heimkehr des verlorenen Vaters –

oder: Wie können Väter zu ihren Kindern zurückfi nden?

Der abgelehnte und zurückgewiesene Vater –

oder: Was können erwachsene Kinder tun, um die

Beziehung zum Vater wiederherzustellen?

Fallbeispiel: Abgelehnte Väter

 

VII. ZERBROCHENE FAMILIEN UND ALTERNATIVE

FAMILIENFORMEN

Partnerschaft und Elternschaft

Fallbeispiel: Liebe und Elternschaft

Fallbeispiele: Beziehungskrisen

Herkunft und Identitätsgefühl des Kindes

Getrennte Eltern, getrennte Familien und Ein-Eltern-Familien

Fallbeispiel: Die Abwehr des männlichen Geschlechts

Patchworkfamilien

Fallbeispiel: Wie Patchworkfamilien gelingen können

Kuckuckskinder, Kuckuckseltern

Fallbeispiel: Kuckuckskind

Die Genderfrage oder Ist die Familie ein Konstrukt?

 

VIII. ELTERN UND GROSSELTERN

Elternsein im Alter

Wenn wir Großeltern werden

 

IX. VATERLIEBE

Vaterliebe – was sie so kostbar und einzigartig macht

Was ich mir wünsche

Empfehlungen an Väter

 

Anmerkungen

Literaturhinweise

 

Victor Chu
Dr. med. Dipl. Psych.
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