Überleben in der Lebensmitte

von Victor Chu
Tredition-Verlag 2014

ISBN 978-3-8495-9458-9 (Paperback)
ISBN 978-3-8495-9459-6 (Hardcover)
ISBN 978-3-8495-9460-2 (e-Book)

Zwischengeneration

Mit dem Begriff Zwischengeneration möchte ich Menschen im Altern zwischen etwa 40 und 60 Jahren bezeichnen. Es ist die Generation, die zwischen den eigenen Eltern und eigenen Kindern steht.

Man fühlt sich irgendwie dazwischengequetscht: Man zählt nicht mehr zu den Jungen, aber man ist auch noch nicht richtig alt. Innerlich fühlt man sich sogar noch recht jung. Aber man entdeckt bei sich schon die ersten Anzeichen des Alterns - die Gelenke ächzen, die Sehkraft lässt nach, die Haare fallen aus oder ergrauen. Vielleicht hat man beruflich und familiär erreicht, was man sich in der Jugend erträumt hat. Aber was kommt nun? Was bringt die Zukunft?

Früher, als die Lebenserwartung geringer war, gehörte man mit 40 oder 50 tatsächlich schon zu den “Alten”. Da hatte man längst seinen Platz in der Gesellschaft erobert, wurde wegen seiner Lebenserfahrung als “Weise/r” um Rat gefragt. Aber heute bleiben wir lange in einer Zwischen- phase, einer Phase, diemehrere Jahrzehnte andauern kann, bis wir wirklich alt sind.

Es gibt nicht einmal einen richtigen Namen für die mittlere Generation. Wir kennen höchstens das Schlagwort der Midlife-Crisis: “Krise des Mittelalters” - bezeichnenderweise ein Begriff mit negativem Beigeschmack. Neuerdings spricht man auch von der Sandwichgeneration. Aber auch dieser Ausdruck ist negativ konnotiert. Er vermittelt das Gefühl des Eingeklemmtseins. Und da man sich nicht positiv definieren kann, fällt man sowohl subjektiv (in seinem Identitätsgefühl) als auch objektiv (als gesellschaftliche Gruppe) “durch die Ritze”. Wer kennen Namen hat, hat auch keine Identität.


Wenn wir zum ersten mal Eltern werden

Wenn wir selbst Eltern werden, “wechseln wir die Fronten”. Ich nenne dies Generationssprung. Als Eltern werden von uns ganz andere Einstellungen und Verhaltensweisen verlangt, als wenn wir kinderlos blieben. Es findet eine extreme Verschiebung in der Wahrnehmung unserer Realität und unserer Umwelt statt. Oft merken wir erst später, dass wir nie mehr die sein können, die wir waren. Manche junge Eltern erzählen beispielsweise, dass ihr gesamter Freundeskreis sich radikal verändert hat, nachdem sie ihr erstes Kind bekamen. Mit den alten Freundinnen und Freunden konnten sie sich plötzlich nicht mehr unterhalten. Umgekehrt lernten sie bald andere Eltern kennen, die in der gleichen Situation standen. Viele sehnten sich nach der Unbekümmertheit ihres alten Lebens zurück, merkten aber irgendwann: Kinder zu bekommen ist nicht bloß eine Unterbrechung in ihrem bisherigen Leben, es ist der Beginn einer neuen Lebensphase, von der es kein Zurück gibt.


Wenn Eltern älter werden

Wenn unsere Eltern älter werden, kommen wir in eine sehr interessante Lebensphase: Dann rücken sie uns plötzlich wieder näher, nachdem man sich im jungen Erwachsenenalter vielleicht voneinander entfernt oder sich gar aus den Augen verloren hat. Nun kommen wir in familiärer Hinsicht wirklich in die Zwischengeneration: Über uns haben wir die alten Eltern, unter uns die Kindergeneration.

Wenn (a) wir selbst Eltern werden und (b) die eigenen Eltern älter werden und sterben, werden wir mit unserer eigenen Identität konfrontiert. Wir entdecken die Ähnlichkeit mit den eigenen Eltern - etwas, was man in jungen Jahren weit von sich gewiesen hat. Gleichzeitig merken wir, wie wir vieles von uns selbst an die nächste Generation weiterreichen, unsere gunten wie schlechten Eigenschaften - auch wenn wir alles anders (natürlich besser) machen wollten als unsere Eltern. Wir beginnen das komplexe Geflecht von Projektionen, Delegationen und Identifikationen zwischen Eltern- und Kindergeneration zu begreifen und merken, dass wir selbst ein Teil dieses Netzes sind.

Als Mitglied unserer Familie spüren wir, wie wir Teil eines großen Stromes sind. Darin sind wir nur eine Welle, die auftaucht und vergeht. Gleichzeitig wird uns bewusst, dass jede/r von uns als Individuum ein unverwechselbares, einzigartiges Schicksal zu leben hat, das sich von dem Schicksal der Eltern und dem der eigenen Kinder unterscheidet. Dies ist ein aufrüttelndes Erlebnis. Wir finden in diesem Prozess unseren eigenen Platz im Leben.

Dann stehen konkrete Aufgaben an: Die Eltern werden alt und gebrechlich, vielleicht werden sie pflegebedürftig. Wir müssen uns ihnen neu zuwenden, diesmal aber in einer völlig neuen Rolle: Wir sind auf einmal die Stärkeren, wir kennen uns in der modernen Welt besser aus, wir übernehmen immer mehr Aufgaben, die die Eltern nicht mehr erledigen können. Mit dieser Rollenumkehr tauchen manche alte Themen und Konflikte aus der Kindheit wieder auf. Haben wir vielleicht Rechnungen offen, die noch nicht beglichen sind? Wir sehen uns auf einmal im Konflikt zwischen Rachebedürfnis und Dankbarkeit. Genügt die eigene Liebe zu den Eltern, um ihnen die Zuwendung in dem Maß zu geben, wie sie es brauchen oder wie sie es erwarten und fordern?

Wir kämpfen unweigerlich mit Schuldgefühlen, mit gesellschaftlichen Erwartungen, mit eigenen Bedürfnissen. Darf man die Eltern in Pflege geben? Wo finden sie eine gute Betreuung? Oder sollen wir sie zu uns nehmen und selber pflegen? Wo ist die Grenze des Zumutbaren - sowohl für die Eltern als auch für uns selbst? Wie gehen wir mit der Macht um, die wir auf einmal über die eigenen Eltern haben? Wie gehen wir mit dem Gefühl der Ohnmacht um, dass wir, ohne es zu wollen, wieder so eng mit den Eltern verquickt sind? Müssen wir nach dem Erwachsenwerden der Kinder nun unser Leben nach den Eltern richten? Wann sind wir endlich wieder frei, um unser eigenes Leben zu leben?

 

Victor Chu
Dr. med. Dipl. Psych.
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