Lebenslügen und Familiengeheimnisse

von Victor Chu
Tredition-Verlag 2014

ISBN 978-3-8495-9514-2 (Paperback)
ISBN 978-3-8495-9515-9 (Hardcover)
ISBN 978-3-8495-9516-6 (e-Book)

Beispiele für Lebenslügen

Eine Antwort auf die Frage zu geben, was eine Lebenslüge sei, ist gar nicht so einfach. Aber jeder, den man frage, weiß genau, was mit „Lebenslügen“ gemeint ist. Fast jedem fällt gleich eine Lebenslüge aus seinem Leben ein. Hier sind einige der Antworten:

"Meine Mutter ist unehelich geboren und wusste lange nichts davon. Ihre Mutter brachte sie zur Welt und gab sie gleich an ihre Eltern. Sie selbst ging weit fort und besuchte das Kind nur gelegentlich. Bei diesen Gelegenheiten wurde sie als die ‚Tante’ meiner Mutter vorgestellt. Meine Mutter glaubte bis zu ihrem sechsten Lebensjahr, ihre Großeltern seien ihre Eltern und ihre leibliche Mutter sei ihre ältere Schwester. Es war für sie ein Schock, als sie die Wahrheit erfuhr.“

„Ich habe immer geglaubt, mein Vater liebt mich. Dass er es mir nicht zeigen konnte, habe ich meiner Mutter zugeschrieben, weil sie immer gestört hat, wenn ich mit meinem Vater allein sein wollte. Nun ist meine Mutter tot und ich entdecke, dass sich an der Distanz zu meinem Vater nichts verändert hat. Ich habe erkennen müssen, dass er mit mir einfach nichts anfangen kann. Sein Verhältnis zu meinem Bruder ist ganz anders.“

„Ich habe immer geglaubt, meine Mutter liebt mich nicht. Sie hat mir nie ein Geburtstagsfest gerichtet, wie es die Mütter meiner Freundinnen getan haben. Als ich mich bei meiner Therapeutin darüber beklagte, fragte sie mich, ob ich meiner Mutter je gesagt hätte, dass ich ein Geburtstagsfest von ihr gerichtet bekommen möchte. Ich wäre selbst nie auf die Idee gekommen! Ich habe meine Mutter dann gleich gefragt. Sie war über meinen Wunsch überrascht und erfreut und hat mir sofort das nächste Geburtstagsfest gerichtet. Sie hat früher einfach nicht die Zeit gehabt, an so etwas zu denken, weil sie den ganzen Tag zu arbeiten hatte. Und ich habe geglaubt, sie liebt mich nicht!“

„Ich habe geglaubt, dass ich eine glückliche Kindheit gehabt habe, bis meine ältere Schwester mir vor kurzem erzählte, dass sie jahrelang von unserem Vater sexuell missbraucht wurde. Sie habe immer versucht, mich und unsere jüngere Schwester vor ihm zu schützen. Da ist für mich eine Welt zusammengebrochen.“

Ein Mann war zeitlebens unzufrieden mit seinem Beruf. Er erkrankte Mitte fünfzig an Krebs. Im Augenblick der Diagnose wurde ihm klar, dass er Künstler hätte werden sollen statt Beamter. Sein Vater hat ihn dazu gedrängt, sich einen „sicheren“ Beruf zu suchen. „Nun will ich in der wenigen Zeit, die mir noch verbleibt, endlich etwas für mich selbst tun.“, sagt er: „Vor lauter Pflichterfüllung habe ich die Stimme meines Herzens ignoriert.“

Ein Mann ist kürzlich von seiner Frau verlassen worden. Er versteht die Welt nicht mehr: „Ich weiß nicht, was mit ihr los ist. Das ist bestimmt der schlechte Einfluss ihrer neuen Freundin! Wir haben doch eine glückliche Ehe! Sie hat ein schönes Haus, genug Geld zum Ausgeben, und ich gehe nicht fremd. Was will sie dennmehr?“

„Ich bin verheiratet und habe drei Kinder. Ich habe immer geglaubt, ich hätte eine gute Ehe. Mein Mann behandelt mich und die Kinder anständig. Ich habe nie Grund zu klagen gehabt. Aber durch eine zufällige Begegnung mit einem anderen Mann ist mir auf einmal bewusst geworden, was mir bisher alles gefehlt hat: Liebe und Leidenschaft. Mit dem anderen Mann ist zwar nichts passiert. Aber nun bin ich nicht mehr sicher, ob ich bei meinem Mann bleiben oder ob ich einen ganz neuen Anfang wagen soll.“

„Ich habe neulich einen alten Schulkameraden auf einem Klassentreffen wiedergesehen. Er gestand mir, dass er schon immer in mich verknallt war. Das habe ich nie geahnt. Er guckte mich früher immer so böse an, dass ich vor ihm weggelaufen bin!“

„Ich habe immer geglaubt, ich bin bescheiden. Ich fordere nichts, stelle mich gerne hintan. Nun bin ich drauf gekommen, dass ich eigentlich Angst habe, mehr für mich zu fordern. Wenn ich nicht mehr vom Leben will, als ich bekomme, kann ich nie enttäuscht werden. Ich wüsste nicht, was ich tun würde, wenn ich meinen Traummann wirklich finden würde. Ich glaube, das wäre mir zu viel!“

„Ich habe vor zwei Jahr mit einem meiner besten Freunde ein kleines Geschäft gegründet. Leider musste ich nach einiger Zeit feststellen, dass er mich belog und Geld unterschlug. Jetzt habe ich endlich unseren Vertrag gekündigt, bin gerade mit einem blauen Auge davongekommen. Ich hätte nie geglaubt, dass er zu solchen Gemeinheiten fähig gewesen wäre. Ich wusste zwar vorher, dass er sich Ähnliches anderen Menschen gegenüber geleistet hat. Aber ich habe fest daran geglaubt, mit mir würde er doch so etwas nie machen, wo wir so dick befreundet sind!“


Was ist das Gemeinsame an diesen Beispielen?

Die betreffenden Menschen haben ihr Leben auf einer falschen Annahme aufgebaut. Sie haben sich etwas vorgemacht und haben ihr Leben darauf eingerichtet. Die Lüge, die sie sich dabei erzählt haben, erfüllte eine wichtige Funktion in ihrem Leben.

Deshalb hielten sie sich daran fest, selbst wenn Widersprüche auftauchten. Manchmal darf eine Lebenslüge nicht hinterfragt werden, sie wird tabuisiert.

Wenn die Wahrheit dann ans Licht kommt, gibt es eine große Erschütterung. Nicht selten kommt es zu einer Krise beim betreffenden Menschen und in seinem sozialen System, die das bisherige Leben in Frage stellt.


Beispiele aus der Gesellschaft

Solche Fälle von Selbsttäuschungen treffen wir nicht nur bei Einzelpersonen. Lebenslügen finden wir besonders häufig im gesellschaftlichen Zusammenhang. Sie betreffen meistens unangenehme Tatsachen. Hier einige Beispiele:

Viele Menschen pflegen heute den Jugendlichkeitskult. Wir möchten bis ins Alter jung bleiben, sogar „das Alter besiegen“. Fitness- und Sonnenstudios, Schönheitsfarms und Schönheitschirurgen haben Hochkonjunktur. Gleichzeitig werden drängende Probleme wie Einsamkeit im Alter, Altersarmut, Pflegenotstand, Überalterung der Gesellschaft verdrängt oder nicht ernstgenommen.

Dass wir uns seit einigen Jahren in einem von Menschen veursachten Klimawandel befinden, ist allseit bekannt. Es gibt jedoch nicht wenige Fachleute, die heute immer noch behaupten, der allgemeine Temperaturanstieg liege im Rahmen der statistischen Schwankungen; wir bräuchten uns keine Sorgen zu machen.

Der Aktienboom Ende der 90er Jahre und der ihm folgende Crash haben vielen Menschen ihr Vermögen gekostet, anderen ihre Alterssicherung. Kaum haben sich die Kurse etwas erholt, rühren Händler wieder an der Werbetrommel. Mit Hilfe von Zehn- oder Zwanzig-Jahres-Statistik behaupten sie, Aktien seien eine sichere und lukrative Geldanlage.

1999 wurde die deutsche Öffentlichkeit durch die CDU-Spendenaffäre aufgeschreckt. Nachdem prominente CDU-Politiker die Existenz geheimer Konten zugegeben hatten, gestand der ehemalige Parteivorsitzende Helmut Kohl, selbst mehrere Millionen Spenden persönlich angenommen zu haben. Die Namen der Spender wolle er aber unter Berufung auf sein „Ehrenwort“ nicht nennen. Eine unabhängige Kommission stellte fest, dass Zweidrittel der Computerdateien im Kanzleramt nach der Bundestagswahl 1998 (bei der Helmut Kohl als Bundeskanzler von Gerhard Schröder abgelöst wurde) verschwunden war, darunter auch die Akten aus dem Verkauf der ostdeutschen Leuna-Raffinerie an den französischen Staatsbetrieb Elf Aquitaine, bei der Schmiergelder gezahlt worden sein sollten. Die CDU stürzte in eine tiefe Krise. Die parlamentarischen Untersuchungen verliefen im Sand. Helmut Kohl behauptet noch nach Jahren, die Spendenaffäre sei ein Versuch seiner Gegner, seine Verdienste als „Kanzler der Einheit“ zu schmälern. In der Folgezeit wurden Spendenaffären auch bei der SPD und FDP festgestellt.


Was ist eine Lebenslüge?

  • Eine Lebenslüge ist eine Lüge, ...
  • die ich mir selbst erzähle,
  • an die ich selbst glaube,
  • auf der ich mein Leben aufbaue.


Was sind Lebenslügen? Sie sind Lügen, die wir uns selbst erzählen. Wir machen uns Illusionen – über uns selbst, unsere Beziehungen, unsere Umwelt – , und diese Illusionen machen wir zur Grundlage unseres weiteren Lebens. Sie werden zu tragenden Pfeilern unseres Glaubenssystems.

Eine Lebenslüge ist wie ...

  • ein Haus auf Sand gebaut: Wenn wir unser Leben auf einer Illusion aufbauen, können wir noch so ernsthaft und gewissenhaft am Bau arbeiten, das Haus wird nicht stehen, weil sein Fundament nicht standhält. Selbst das kunstfertigtste Haus bricht zusammen, wenn das Fundament morsch und schlüpfrig ist.
  • eine Mathematikaufgabe mit Hilfe einer falschen Formel zu lösen: Selbst wenn alle unsere Einzelberechnungen richtig sind, kommt immer ein falsches Ergebnis heraus.
  • eine falsche geknüpfte Jacke: Wenn der erste Knopf schon falsch geknöpft ist, wird die ganze Jacke schief.

Warum lügen wir uns etwas vor?

Individuelle Gründe:

  • Sicherheit: Die Wahrheit macht mir Angst – ich schaue lieber weg.
  • Vereinfachung: Die Wahrheit ist zu kompliziert – ich mache sie mir etwas handlicher.
  • Trost: Die Wahrheit ist zu grausam – ich baue mir eine tröstlichere Welt.
  • Schönfärben: Die Wahrheit ist zu hässlich – ich beschönige sie lieber.
  • Scham: Die Wahrheit beschämt mich – ich decke sie lieber zu.
  • Betäubung: Die Wahrheit schmerzt zu sehr – ich mag nichts mehr empfinden.
  • Verleugnung: Es kann nicht sein, was nicht sein darf.
  • Sinngebung: Mein Leben hat keinen Sinn mehr, wenn ich nicht an irgendetwas glaube.
  • Verantwortung abschieben: Ich will nicht schuldig sein – also schaue ich lieber weg.
  • Rollenumkehr: Ich will nicht Opfer sein – lieber bin ich Täter, dann habe ich wenigstens die Kontrolle in der Hand.
  • Projektion: Ich will nicht Täter sein – jemand anders ist schuld.
  • Bequemlichkeit: Die Wahrheit will ich lieber nicht wissen. Sie beunruhigt nur.

Kollektive Gründe:

  • Unwissen: Ich werde klein und unwissend gehalten.
  • Manipulation: Ich werde bewusst belogen, fehlinformiert oder manipuliert.
  • Zensur und Tabu: Man verbietet mir, weiterzudenken oder weiterzufragen.
  • Sanktionen: Ich werde bestraft, wenn ich weiterdenke oder weiterfrage.
  • Eintrittsticket: Ich habe Angst, ausgeschlossen zu sein, wenn ich mich nicht anpasse. Ich möchte dazugehören.
  • Lügensystem: Alle lügen. Warum nicht auch ich?

Was geschieht, wenn wir Lebenslügen aufdecken?

Die Lüftung von Lebenslügen und Familiengeheimnissen ist ein schmerzlicher Prozess. Wir werden konfrontiert mit allen unangenehmen Wahrheiten, die wir bisher verleugnet haben. Verdrängte Erinnerungen und verleugnete Gefühle tauchen aus der Versenkung auf – Scham, Schuld, Trauer, Angst, Wut, Liebe. In dieser Phase kann therapeutische Begleitung uns helfen, dem Ansturm der Gefühle standzuhalten, unsere Gedanken zu sortieren und unser Leben neu zu ordnen.

Denn mit der Lüftung der Lebenslüge ist alles in Unordnung geraten – unser Gefühlsleben, unser bisheriges Lebenskonzept, unsere Beziehungen. Vielleicht ist es passender zu sagen: endlich hört es mit der Unordnung auf! Das Lügengebäude, das aus unseren Selbsttäuschungen und Träumen bestanden hat, bricht zusammen. Der Nebel unserer Illusionen verzieht sich, das Gefühl der Unwirklichkeit hebt sich. Es wird allmählich heller, wir atmen endlich durch.

Jedoch hat das Vergangene lauter Trümmer hinterlassen. Nun geht es darum, die Trümmer zu beseitigen, um neuen Lebensraum zu schaffen. Wie nach einem Krieg gilt es aufzuräumen, unsere Verhältnisse neu zu ordnen.

Besonders unsere Beziehungen müssen neu geordnet werden. Aufgrund unserer Lebenslügen haben sich irreale Beziehungen und Konstellationen gebildet, die nun in Frage gestellt, beendet oder verändert werden müssen. Dieser Prozess der Umstrukturierung ist schmerzlich, manchmal auch langwierig. Er braucht Zeit, Geduld und Verständnis. Manchmal müssen harte Auseinandersetzungen geführt werden. Man muss bekennen, dass man sich und anderen etwas vorgemacht hat. Man muss auch seinen Beziehungspartnern die Zeit einräumen, mit der neuen Realität fertig zu werden. Es kann sein, dass der Lebenspartner, dass Familienangehörige und Freunde die Beziehung aufkündigen, weil sie sich getäuscht fühlen. Manche werden sich weigern, die plötzliche Kehrtwendung mit zu vollziehen, weil sie alles beim Alten lassen wollen. Andere werden erleichtert reagieren, weil sie unter den unklaren Verhältnissen gelitten haben oder aus Rücksicht geschwiegen haben. Geheimnisträger, die bisher an den Täuschungen mitgetragen haben, können endlich ihr Schweigen brechen. Es kann sein, dass sich der Bekannten- und Freundeskreis neu strukturiert, dass alte Verbindungen abbrechen und neue entstehen. Die Familienkonstellation wird sich vielleicht auch ändern. Alte Loyalitäten lösen sich auf, während neue Verbindungen geknüpft werden.

Auch äußerlich kann sich manches ändern. Es könnte sein, dass man aufgrund der neu gewonnenen Einsichten etwas Grundsätzliches in seinem Leben verändern will: den Wohnort, den Beruf oder Arbeitsplatz. Vielleicht muss man seine finanziellen Verhältnisse neu ordnen, etwa nach einer Trennung oder Scheidung. Wenn Kinder mit betroffen sind, muss man auch die Familienverhältnisse neu regeln.

Es ist besonders bei der Umstrukturierung von Familienbeziehungen wichtig, sich Zeit zu lassen. Man muss innerhalb der Familie Verbündete finden, Abwehr und Misstrauen abbauen und um Verständnis für den neuen Lebensweg werben. Die Eröffnung eines Lebensgeheimnisses schlägt immer hohe Wellen im engen Familien- und Beziehungsgeflecht, und man muss aufpassen – um im Bild zu bleiben – , dass kein Boot dabei kentert. Bei der Aufdeckung eines Missbrauchs oder der Offenlegung einer bisher verschwiegenen Herkunft eines Kindes etwa muss man sich überlegen, zu welchem Zeitpunkt und gegenüber welchen Angehörigen man das Geheimnis lüftet. Da dies ein Vorgang ist, der alle in der Familie betrifft, ist es ratsam, die einzelnen Schritte mit Vertrauten gut durchzusprechen und vorzubereiten.

In dieser Phase der Rekonstruktion der inneren und äußeren Realität braucht man Geduld und Durchhaltevermögen. Wir müssen mit Rückschlägen rechnen. Rückfälle in alte, liebgewonnene Gewohnheiten und Verhaltensmuster sind programmiert. Dennoch gilt es, den Mut nicht zu verlieren und den eingeschlagenen Weg beizubehalten. Es kann Monate, ja sogar Jahre dauern, bis man sein Leben neu geordnet hat und einen Neubeginn starten kann. Aber es lohnt sich.

 

Victor Chu
Dr. med. Dipl. Psych.
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