BRIEFE AN EINEN JUNGEN THERAPEUTEN –  Einblicke in das Herz der Psychotherapie

Schattauer Verlag 2021

ISBN  360840063X

Therapeutischer Selbstschutz

Muss sich der Therapeut vor seinen Klienten schützen?

 

Ja, er muss sich schützen, aber nicht vor den Klienten, sondern vor dem Elend, dem er in seiner therapeutischen Arbeit immer wieder ausgesetzt ist. Wenn er sich nicht davor schützt, müsste er alles „schlucken“, was er in der Therapie erfährt. Symbolisch gesehen, würde er sich den Magen verderben, vielleicht sogar sich vergiften. Oder er müsste sich ständig übergeben.

 

In der Psychotherapie achtet man viel auf den Schutz des Klienten, etwa indem man traumatisierte Klienten anleitet, in sich einen „sicheren Ort“ zu schaffen und indem man darauf achtet, dass ihnen nur so viel zumutet wird, wie sie vertragen können. Was aber den Schutz des Therapeuten angeht, darüber wird wenig gesprochen und nachgedacht.

Ein Psychotherapeut exponiert sich aber in seiner Arbeit täglich schlimmen Dingen: In den Schilderungen seiner Klienten begegnet ihm menschliches Elend in den verschiedensten Gestalten: Gewalt, Vernachlässigung, Missbrauch, Krieg, Terror, Krankheit, Tod. Er begleitet seine Klienten durch schwer zu ertragende Gefühle wie Trauer, Angst, Verzweiflung, Wut und Ohnmacht und versucht, ihnen heraus zu helfen.

Tatsächlich hat ein Therapeut, wie viele Menschen in sozialen Berufen, etwas von einem Helden, der Elende und Hoffnungslose aus ihrer Finsternis erlöst und verlorene Seelen aus dem Verdammnis retten. Aber kaum jemand fragt sich, woher er seine Kraft, seine Hoffnung und seinen Optimismus bezieht, die er so selbstlos weitergibt. Liegt das daran, dass er eine gesunde Konstitution geerbt hat, einen starken Glauben in sich trägt oder ein glückliches Familienleben führt? Kann er denn immer so frohgemut und zuversichtlich sein? Was ist sein Geheimnis?

 

Es gibt kein Geheimnis. Ich kenne genug Therapeutinnen und Therapeuten, die eigentlich depressiv sind, die ein vollkommen einsames Privatleben führen, die mehrfach geschieden sind, die alkohol- oder tablettensüchtig sind. Ich habe selbst Zeiten erlebt, in denen mit mir auch nicht alles zum Besten bestellt gewesen ist. In solchen düsteren Zeiten war es oft die Arbeit, die mich aus meiner Not rettete. Wie oft habe ich die Erfahrung gemacht, dass es mir morgens ganz elend war. Ich ging zur Arbeit und wusste nicht, wie ich den Tag überstehen sollte. Aber schon nach der ersten Therapiestunde ging es mir besser. Fast könnte man meinen, der Kummer meiner Klienten hätte mir bewusst gemacht, dass es mir eigentlich gar nicht so schlecht ging. Dazu kommt, dass man in der therapeutischen Arbeit den Klienten immer wieder auf seine Ressourcen aufmerksam macht. Indem man sich den hellen Seiten des Lebens zuwendet, geht es einem besser. Indem ich einem Klienten helfen, helfe ich indirekt auch mir selbst, die Welt in einem positiveren Licht zu sehen.

 

Leider ist dies nur die eine Seite der Medaille. Denn die Erfahrung, dass ich dem Klienten auf die Beine habe helfen können, schenkt mir nur ein kurzfristiges Erfolgserlebnis. Ich stecke selber immer noch in dem Problem fest, das ich schon vor der Therapiesitzung gehabt habe. Diese stellt nur eine willkommene Unterbrechung dar. Sobald ich wieder zuhause bin, springt mich mein eigenes Elend wieder an. Ich kenne Therapeuten, die ihren Tag heiter mit ihren Klienten verbringen, nur um sich abends mühsam zurück in ihr unglückliches Zuhause zu schleppen.

 

Was noch dazu kommt: Die schlimmen Lebensberichte, die man als Therapeut von seinen Klienten erzählt bekommt, kann man nicht so leicht abschütteln. Selbst wenn man im Laufe seines Arbeitslebens einiges an Horrorgeschichten gewohnt ist, wird man gelegentlich von den Schilderungen eines Klienten „kalt erwischt“. Plötzlich steht man selbst als das vernachlässigte oder verprügelte Kind da, das man einst gewesen ist, und fühlt sich so elend wie damals. Manchmal genügt es, dass der Klient zufällig einen empfindlichen Punkt in unserer eigenen Seele berührt, den wir bisher sorgsam zugedeckt haben, um eine verdrängte Episode aus unserer Vergangenheit wieder voll zum Leben zu erwecken. In solchen Momenten erstarren wir und halten die Luft an und versuchen mit aller Kraft, unsere Fassade aufrechtzuerhalten und die Sitzung zu Ende zu bringen. Innerlich wird uns schwindlig und speiübel. Wir schauen auf die Uhr und wünschen sehnlichst das Ende der Stunde herbei, damit wir endlich nach Hause fahren und uns ins Bett verkriechen können.

 

Aber selbst wenn wir nicht persönlich betroffen sind, ist es manchmal viel zu viel, was man als Therapeut miterleben und mittragen muss. Manchmal verfolgen uns die Ängste eines Klienten bis in die Träume hinein. Manchmal nimmt man die Wut eines Klienten auf die ungerechten Verhältnisse mit nach Hause und schimpft vor sich hin. Manchmal sucht man verzweifelt nach Lösungen für die Kämpfe, die ein Klient mit seinem Partner ausficht und findet keinen Schlaf.

 

Sekundäre Traumatisierung

 

Als Therapeuten werden wir immer wieder „sekundär (oder stellvertretend) traumatisiert“ (im Englischen heißt es vicarious traumatization): Eine sekundäre Traumatisierung ist etwas, das nicht das Opfer eines Traumas, sondern den Zeugen eines schrecklichen Geschehens befällt. Dadurch, dass wir in so nahem Austausch mit einigen unserer Klienten stehen, lässt sich trotz unserer professionellen Distanz nicht vermeiden, dass wir ihren Schmerz, ihre Enttäuschung, ihr Entsetzen in uns aufnehmen und das ganze Grauen originalgetreu nachspüren. Es ist wie ein böser Geist, der uns ebenfalls in Besitz nimmt oder ein ansteckender Keim, der auf uns überspringt. Wir werden regelrecht kontaminiert von dem Bösen.

 

Solche stellvertretenden Traumatisierungen gehen einem an die Substanz. Dann erleben wir tatsächlich das Gleiche wie unsere traumatisierten Patienten: Wir bekommen somatische Symptome, wir fühlen uns elend, wir verkriechen uns oder rasten unvermittelt zuhause aus.

 

Laura van Dernoot Lipsky ist eine amerikanische Sozialarbeiterin, die ab ihrem 18. Lebensjahr zuerst mit Obdachlosen arbeitete, dann mit Opfern von sexuellem Missbrauch, häuslicher Gewalt, akuten Traumatisierungen und Naturkatastrophen. Am Anfang war sie vollen Enthusiasmus in ihre Arbeit gegangen und sah es als Privileg an, anderen dienen zu können. Nach 20 Jahren aber merkte sie, wie die Arbeit sie verändert hatte, dass sie nicht mehr der Mensch war, die sie einst gewesen war. Sie wurde zunehmend verzweifelt und wütend über die Brutalität, mit der Menschen, Tiere und die Erde behandelt werden. Allmählich hatte ihre Arbeit ihre frühere Fähigkeit erodiert, in der Gegenwart zu leben und Freude am Leben und an ihren Beziehungen zu spüren. Sie begann nach Wegen zu suchen, wie sie aus der Zwickmühle wieder herauskommen könnte. Viele heilsamen Erfahrungen, etwa die Begegnung mit buddhistischen Mönchen und Nonnen, indigenen Medizinmännern und -frauen sowie die Übung von Qigong ließen sie wieder zu sich kommen. Sie schrieb 2007 das Buch Trauma Stewardship (was man mit „Die Verwaltung von Trauma“ übersetzen könnte) und leitet seither Seminare darüber. Außerdem initiierte sie viele Hilfsaktionen für Helfer und Betroffene in Katastrophengebieten.

 

In ihrem Buch beschreibt sie 16 Alarmzeichen, die Angehörige helfender Berufe bei sich feststellen können, wenn sie die Grenzen ihrer Arbeitskapazität überschritten haben:

16 Trauma Exposure Responses („16 Reaktionen, wenn man sich Traumata aussetzt“)

  1. Gefühle der Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit
  2. Das Gefühl, dass egal, wieviel man leistet, nichts wirklich genug ist
  3. Ständige Übererregtheit und Hochspannung
  4. Abnehmende Kreativität
  5. Unfähigkeit oder Unwillen, komplexe Zusammenhänge zu erfassen
  6. Abwertung von sich selbst und anderen
  7. Chronische Erschöpfung bis zu körperlichen Beschwerden
  8. Nicht mehr zuhören können, Vermeidung von Klientenkontakten
  9. Augenblicke von Dissoziation
  10. Sich verfolgt fühlen
  11. Schuldgefühle
  12. Ängste
  13. Wut und Zynismus
  14. Gleichgültigkeit, Verlust der Fähigkeit zur Empathie
  15. Süchte
  16. Grandiosität

Viele dieser Symptome sind Anzeichen von Burnout: Nachlassende Leistungsfähigkeit, Erschöpfung, Rückzug, Abstumpfung, innere Leere. Auch die Haltung gegenüber der Klientel ändert sich. Die ursprüngliche Begeisterung weicht einer bleiernen Gleichgültigkeit. Das frühere Mitgefühl für die Hilfesuchenden verwandelt sich in zynische Verachtung. Gleichzeitig hat man Schuldgefühle gegenüber den Menschen, die man betreut. Schuldig fühlt man sich auch gegenüber sich selbst, als habe man seine einstigen hohen Ideale verraten. Man schiebt die schwierigen Fälle jüngeren Kolleginnen und Kollegen zu, die immer noch begeisterungsfähig sind, und zieht sich in bequeme Verwaltungsarbeiten zurück. Oder man macht stumpfsinnig weiter, wartet auf die Rente und ertränkt seinen Frust in Alkohol oder anderen Suchtmitteln.

 

Mit der Zeit zieht man sich zurück und beginnt sich auch zu isolieren, von geliebten Menschen, von seiner Gemeinschaft, von den eigenen Hobbys, von der Natur. Durch die Selbstisolierung schirmt man sich nicht nur von den Dingen und Menschen ab, die einen belasten. Man schneidet sich auch von seinen Kraftquellen und Ressourcen ab. Man will zwar die schlimmen Dinge nicht mehr sehen, aber man wird auch blind für die schönen Seiten des Lebens. Man hört den Klang des Lebens um einen selbst nicht mehr.

 

Eine solche depressiv-aggressive Stimmung ergreift nicht nur das Individuum, sondern breitet sich auch in den Gemeinschaften aus, in denen man lebt und arbeitet: in der Partnerschaft, in der Familie, in der Klinik oder Praxisgemeinschaft, in der man wirkt. Man beginnt, den eigenen Frust auf andere zu projizieren und sucht nach Schuldigen, die für die eigene Misere verantwortlich sind. Es sind entweder Kollegen, die einem das Leben schwer machen, oder die Patienten, die uneinsichtig und unbelehrbar sind.

 

Dann ist es höchste Zeit, innezuhalten, eine Pause einzulegen, um wieder zu sich selbst zu kommen.

 

Wie können wir uns davor schützen, dass wir von unserer Arbeit in Mitleidenschaft gezogen werden? Hier ist eine Liste von Maßnahmen, mit denen wir sowohl für unsere eigene seelische Gesundheit sorgen als auch unsere Freude an unserem Beruf erhalten können:

 

Selbstfürsorge

  • Präsent sein, lebendig sein, mit dem eigenen Wesenskern im Kontakt bleiben
  • Meditation, Qigong, Tai Chi, Yoga
  • Eigentherapie

Sich abgrenzen in der Arbeit

  • Energetischer Selbstschutz
  • Kontakt mit Schutzgeistern/Engeln aufnehmen
  • Schwierige Klienten abweisen/überweisen
  • Für Abwechslung in der Arbeit sorgen
  • Pausen einlegen, Wochenenden freihalten, regelmäßig Urlaub nehmen, reisen, andere Kulturen kennenlernen

Ein professionelles Unterstützungssystem aufbauen

  • Eigentherapie
  • Supervision, Intervision
  • Ein professionelles Unterstützungssystem aufbauen

Das Privatleben kommt zuerst

  • Familie
  • Freunde
  • Gute Nachbarschaft
  • Hobbys und andere Leidenschaften pflegen
  • Privatleben schützen

Einen Plan B haben

  • Alternativen zu der bisherigen Arbeit bereithalten
  • Sabbatical einlegen
  • Träume realisieren

Den Geist freihalten

  • Im Leben das Positive wie das Negative im Gleichgewicht halten (das Glas ist halb voll und halb leer)
  • Humor bewahren
  • Bescheidenheit und Demut pflegen (statt Überheblichkeit und Selbst-Überforderung)
  • Dankbarkeit pflegen, sich selbst und anderen gegenüber
  • An realen Verbesserungen innerhalb der eigenen Möglichkeiten (mit)arbeiten
  • Sich mit Gleichgesinnten vernetzen

 

Selbstfürsorge

In einem Beruf, in dem es vor allem darum geht, anderen zu helfen, ist die Selbstfürsorge des Helfers von eminenter Bedeutung. Wer viel gibt, muss sich mindestens so viel an Zeit und Energie schenken, wie er an andere abgibt. Sonst beutet und zehrt er sich aus. Das bedeutet: Wenn ich am Tag sechs Stunden intensiv mit Klienten arbeite, müsste ich mir mindestens die gleiche Zeit für mein eigenes Wohlergehen nehmen. Eine Kollegin hat mir einmal gesagt, für sie sei es optimal, zwei Klienten pro Tag zu sehen. Wenn ich es mir genauer überlege, stimme ich ihr zu. Denn wenn ich mich wirklich mit meiner ganzen Aufmerksamkeit einem Klienten und seinen Problemen zuwende, benötige ich danach Zeit, um das Erlebte zu verarbeiten und loszulassen. Ich könnte mir vorstellen, dass es tatsächlich ausreichen würde, wenn ich morgens und nachmittags je einen Klienten sehen würde. Die übrige Zeit könnte ich mich um den Haushalt, die Kinder und meine Hobbys kümmern. Es ist natürlich nicht immer möglich, nur zwei Stunden am Tag zu arbeiten. Wenn ich längere Arbeitstage habe, muss ich mir eben ähnliche viel Zeit, etwa an den Wochenenden, zur Erholung nehmen.

 

In diesen Zeiten kann ich mich auch der Pflege meiner körperlich-geistigen Gesundheit widmen: Meditation, Qigong, Tai Chi, Yoga, Spaziergänge in der Natur. All dies fördert die bewusste Wahrnehmung meiner Selbst. Mit Hilfe solcher Übungen komme ich unmittelbar mit meinem Befinden im Hier und Jetzt in Kontakt. Ich bin präsent. Wenn ich mein Bewusstsein auch während des Tages klar halten kann, indem ich immer wieder innehalte und in mich spüre, verliere ich mich nicht aus dem Fokus. Dann bleibe ich meinem Inneren auf der Spur, auch wenn ich mit einem Klienten arbeite. Ich bin präsent und kann angemessen auf ihn reagieren.

 

Daher ist es auch wichtig für mich, in den Pausen zwischen zwei Therapiestunden bewusst zu mir selbst zurückzukehren, zu meiner Atmung, zu meinem Körperempfinden, zu meiner inneren Stimmung. Damit stimme ich mich wieder auf mich ein. Von der vergangenen Therapiestunde schreibe ich ein Kurzprotokoll auf, einerseits um nochmal darüber zu reflektieren, andererseits um die Sitzung für mich abzuschließen, damit ich innerlich wieder frei werde für den nächsten Klienten. Außerdem hilft mir das Stundenprotokoll, mich an die vorige Stunde zu erinnern, wenn ich den Klienten wiedersehe.

 

Zur Selbstfürsorge gehört selbstverständlich die Eigentherapie. Ich habe bisher in meinem Leben drei lange Einzeltherapien für mich selbst in Anspruch genommen, die letzte mit 55 Jahren, als ich nach einer Familienaufstellung merkte, dass ich ein tiefliegendes Thema noch nicht ausreichend bearbeitet hatte. Diese letzte Einzeltherapie dauerte drei Jahre. Daneben hatte ich mehrere Paartherapien zusammen mit meiner Frau, zwei Selbsterfahrungsgruppen und eine Männergruppe. Die Männergruppe läuft seit 10 Jahren. Mit den Freunden aus der Selbsterfahrungsgruppe treffe ich mich seit bald 40 Jahren, heute sehen wir uns zweimal im Jahr.

 

Auch in den Zeiten, in denen ich keine psychischen Beschwerden habe, pflege ich das Gespräch. Ich tausche mich täglich mit meiner Frau aus. Wenn es nötig ist, verabreden wir uns zu einem Zwiegespräch. Meinen besten Freund sehe ich fast jede Woche. Wir gehen spazieren und erzählen uns alles, was uns in den Sinn kommt. All dies dient meiner Psychohygiene.

 

Sich abgrenzen in der Arbeit

Wenn wir in die Welt unserer Klienten eintauchen, begeben wir uns auch in ihr Energiefeld. Jeder Mensch hat sein eigenes Energiefeld. In diesem ist alles eingebettet, was ihm je passiert ist, an Gutem und an Schlechtem. Wenn zwei Menschen sich näherkommen, kommen sie sich nicht nur körperlich näher. Sie durchdringen sich auch in ihren Energiefeldern. Sie nehmen die vibes, die Schwingungen des anderen in sich auf und schwingen mit. (Mehr dazu siehe hier unter Systemische Zusammenhänge.)

 

Da die Klienten meist mit schlimmen, manchmal auch mit traumatischen Erfahrungen zu uns kommen, werden wir während des intensiven therapeutischen Austausches auch in ihre dunklen Energiefelder hineingezogen. Deshalb fühle ich mich manchmal nach einer Sitzung körperlich bleiern schwer. Oder ich bin traurig und deprimiert. Im Laufe eines Arbeitstages können solche Beschwernisse kumulieren, so dass ich mich am Ende des Tages völlig erschöpft, ja ausgelaugt fühle. In Familienaufstellungen tauche ich als Therapeut noch tiefer in die Familienenergien der Klienten ein. Es kam schon mal vor, dass mir nach einem Aufstellungsseminar der Kopf schwirrte und mir tagelang schwindlig wurde.

 

Energetischer Selbstschutz: Seither in Familienaufstellungsseminaren am Ende jeden Seminartages zusammen mit der Gruppe regelmäßig Qigong-Übungen. Dabei stehen wir um Kreis.Eine wichtige Übung besteht darin, dass ich die Arme vor meiner Brust halte und mir vorstelle, ich umarme einen Baum. Ich verwurzele mich mit dem Baum, spüre wie er stabil im Erdreich steht, nehme die Nährstoffe und die Energie der Erde durch die Wurzeln auf und schicke sie den Stamm hoch bis zur Baumkrone. Dadurch habe ich einen festen Stand auf dem Boden und einen freien Kopf nach oben. Als Zweites drehe ich die Hände nach vorne, als ob ich jemanden auf Armeslänge in Abstand halte. Mit dieser Geste grenze ich mich innerlich ab von den Energien, die von den Gruppenteilnehmern, die vor mir im Kreis stehen, und ihren Familiensystemen kommen. Diese Geste symbolisiert zweierlei: Ich lasse mich von ihnen berühren, gleichzeitig halte ich sie respektvoll auf Abstand. Als Letztes drehe ich die Hände zurück zu mir, so dass die Handflächen wieder zu mir zeigen, wie vorher beim Umarmen des Baumes. Jetzt spüre ich mein eigenes Energiefeld, meine Aura, und ich sage mir: „Das ist das, wofür du zuständig bist.“

 

Diese Übung symbolisiert für mich die Ich-Du-Beziehung: Ich bleibe bei mir, auch wenn ich mich mit dir austausche und mich von dir berühren lassen.

 

Auch spirituelle Unterstützung kann ich in Anspruch nehmen: Manchmal stelle ich mir zwei Schutzgeister vor, der wie Türwächter, jeder auf einer Seite, vor dem Eingang meiner Seele stehen und jeden ungebetenen Gast abhalten. Zuweilen zeichne ich auch einen unsichtbaren Bannkreis um mich, den niemand ohne meine Erlaubnis übertreten darf.

 

Nach einem anstrengenden Arbeitstag, besonders nach Familienaufstellungen, nehme ich zuhause eine ausführliche Dusche. Das Wasser wäscht die Energien, die mein Körper während des Tages aufgenommen hat, wieder ab, und ich steige gereinigt aus der Dusche.

 

Schwierige Klienten abweisen beziehungsweise überweisen:

Zum Selbstschutz gehört auch die Bereitschaft, Klienten, die mich überfordern würden, höflich abzuweisen beziehungsweise an Kolleginnen oder Kollegen zu überweisen. Dazu gehört die Demut, zu wissen, dass ich nicht allen Menschen helfen kann, gleichzeitig das Vertrauen und die Zuversicht, dass es für jeden Klienten auch geeignete Therapeutinnen und Therapeuten gibt.

 

Gelegentlich kommt es auch vor, dass ich während einer langjährigen Behandlung merke, dass sich meine Kräfte und meine Ideen für die Behandlung dieses Klienten erschöpft haben und ich nicht mehr weiterkann. Ich gehe in solchen Fällen erstmal zur Supervision und prüfe nach, ob ich mich vielleicht in einer unbewussten Gegenübertragung zum Klienten befinde. Wenn dies nicht der Fall ist, nehme ich Abschied vom Klienten, begründe es und gebe ihm genügend Zeit, meinen Abbruch zu verstehen und zu verdauen. Ich entlasse ihn dann in der Hoffnung, dass er woanders Hilfe findet. Zum Glück musste ich nur in ganz vereinzelten Fällen einen solchen Schritt tun. Aber die Alternative wäre gewesen, mich (und den Klienten) ohne Motivation und ohne Hoffnung auf eine substanzielle Besserung durchzuschleppen. Dazu ist meine und seine Lebenszeit zu schade.

 

Etwas Frustranes aufzugeben, ist schmerzlich, aber auch erleichternd. Dies gilt natürlich nicht nur für Klienten, mit denen man nicht weiterkommt. Es gilt natürlich auch für Arbeitsstellen, in denen man vergeblich etwas zu erreichen sucht, für Beziehungen, bei denen man trotz aller Liebe nicht weiterkommt und für Wohnorte, die einem nicht das Wohlbefinden geben, die man sich erhofft hat.

 

Für Abwechslung in der Arbeit sorgen:

Die intensive Arbeit mit Menschen mag emotional lohnend sein. Sie kann auf die Dauer auch beschwerlich werden. Daher ist mir wichtig, für Abwechslung in meiner Arbeit zu sorgen. Ich schreibe. Ich gebe Tai Chi-Unterricht. Ich gebe neben meinen Einzeltherapien auch Seminare und Fortbildungen. Gelegentlich werde ich zu einer Lesung oder einem Vortrag eingeladen. All dies bringt Abwechslung und Farbe in meine Arbeit. Die unterschiedlichen Tätigkeiten rhythmisieren meinen Arbeitsalltag. Körperliche Bewegung wechselt sich mit geistiger Tätigkeit ab. Mir wird es dadurch nie langweilig.

 

Pausen einlegen:

Pausen jeglicher Art ist wichtig in unserem Beruf: Pausen zwischen den einzelnen Stunden, freie Wochenenden oder freie Montage nach einem Wochenendseminar, längere Urlaube, Reisen in fremde Länder und Kulturen, auch mal ein Sabbatical Jahr – all dies bringt Luft und Freiheit ins Arbeitsleben. Ich kenne eine Kollegin, die nach vielen Jahren als Psychotherapeutin ein Geschäft mit einer Freundin aufmachte. Nach zehn Jahren kehrte sie erfrischt in ihren alten Job zurück. Eine befreundete Sozialarbeiterin machte eine Pause, indem sie eine Kunstgalerie leitete. Später nahm sie ihre berufliche Tätigkeit wieder auf, aber an einer anderen Stelle.

 

Ein professionelles Unterstützungssystem aufbauen

Die therapeutische Arbeit ist ein einsamer Beruf, weil man es primär mit Patienten und Klienten zu tun hat, aber weniger mit seinesgleichen. Daher ist es wichtig, ein professionelles Unterstützungssystem aufzubauen, in dem man gut eingebettet ist.

Als ich beruflich meine ersten Schritte machte, war ich zwar an einer renommierten psychosomatischen Klinik angestellt, aber ich fühlte mich unter den psychoanalytischen Kollegen ziemlich fremd und einsam. Alles erschien mir steif und überkorrekt. Zum Glück gab es damals die Heidelberger Free Clinic, ein alternatives Zentrum, in dem junge Leute zusammenkamen, um die neuesten Psychomethoden kennenzulernen und mit ihnen zu experimentieren. Es atmete dort ein freier, lebenslustiger Geist. Darin ging ich auf. Tagsüber arbeitete ich in der Klinik. Abends war ich fast immer in der Free Clinic. Dort lernte ich auch die Gestalttherapie kennen, die gerade aus den USA eingeführt wurde. Sie begeisterte mich, so dass ich nach zwei Jahren die Klinik verließ und mich zum Gestalttherapeuten ausbilden ließ. In der gestalttherapeutischen Community fand ich endlich die Gemeinschaft, die zu mir passte. Dort fühlte ich mich endlich angekommen. Natürlich gab es auch innerhalb der Gestaltszene Kämpfe. Aber so etwas geschieht in jeder Familie und in jedem Verein. Wenn man sich zugehörig fühlt, trägt man solche Auseinandersetzungen aus und gehört trotzdem dazu.

 

Das Privatleben kommt zuerst

Dies ist das A und O für jeden, der im sozialen Bereich arbeitet. Egal, wie engagiert man sich seiner Berufstätigkeit widmet, das Privatleben ist das, was uns wirklich trägt. Die Einbettung in der Partnerschaft, in der Herkunftsfamilie und der aktuellen Familie, im Freundeskreis, in der Nachbarschaft – diese bleiben auch weiter bestehen, wenn man in Rente geht oder wenn man krank ist. Dabei hat für mich die Familie einen fundamentalen Wert, weil sie über unser individuelles Leben hinausreicht: durch meine Familie bin ich sowohl mit der Vergangenheit, meiner Familiengeschichte und meinen Vorfahren, als auch mit meiner Zukunft in der Gestalt unserer Kinder und Enkelkinder verbunden. Ich bin nur ein Glied in einer langen Kette. Dies gibt mir meinen Platz im Leben, egal wo ich lebe und mit wem ich lebe.

Zu meinem Privatleben gehören selbstverständlich alles, was mich bewegt und berührt: meine Interessen, meine Hobbys, meine Leidenschaften. Ohne sie wäre mein Leben trotz meiner interessanten Berufstätigkeit ziemlich leer. Ich wüsste nicht, was ich nach der Berentung machen sollte.

 

Einen Plan B haben

Lange Zeit hatte ich eine Vision: Falls ich in meinem Beruf scheitern sollte, könnte ich einen Imbiss aufmachen. Er könnte ein fahrbarer Imbisswagen sein. Er könnte auch eine Imbissbude sein. Da ich selbst gerne koche und esse, war ich sicher, dass ich mit diesem Alternativberuf erfolgreich werden würde. Diese Vision gab mir Kraft, wenn ich frustriert war von meiner Arbeit, oder wenn sich die Therapielandschaft veränderte und ich nicht sicher war, ob ich meine Arbeit lebenslang werde ausüben können.

 

Plan B könnte aber auch sein, einen ganz anderen Lebensentwurf als Möglichkeit bereitzuhalten. Das kann darin bestehen, seine (Kinder-)Träume zu verwirklichen. Wohin sehnst Du Dich? Wo auf der Welt würdest Du eine neue Existenz aufbauen wollen? In welche Rolle würdest Du liebend gerne schlüpfen? Gibt es etwas, wozu Du Lust hättest, obwohl Deine ganze Umgebung darüber schockiert wäre? Solche Träume frisch zu halten, ist gerade wichtig, wenn man älter wird und sich immer mehr in festen Strukturen eingemauert fühlt. Warum nicht mal rausspringen und jemand ganz anders sein? Vielleicht einfach als Experiment oder Erfahrung. Vielleicht aber auch als eine Tür, durch die man in eine ganz andere Welt eintritt.

 

Den Geist freihalten

Wenn man im sozialen Bereich arbeitet, möchte man etwas Gutes tun. Man hat meistens hohe Ideale gehabt, wollte die Welt verbessern, Kranke heilen, eine bessere Zukunft für unsere Kinder gestalten. Mit der Zeit merkt man, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Man beginnt, an den Sinn seiner Mission zu zweifeln. Möglicherweise verzweifelt man über die sozialen, politischen und ökologischen Verhältnisse. Man wird vielleicht zu einem desillusionierten Idealisten, eventuell sogar zu einem Zyniker oder Nihilisten.

 

Im Leben halten sich das Positive und das Negative im Gleichgewicht. Das Glas ist weder ganz voll noch ganz leer. Es ist oft halb voll und halb leer. Welche der beiden Perspektiven wir einnehmen, ist unsere Entscheidung. Also wäre es vielleicht gar nicht so falsch, ein optimistischer Pessimist oder ein pessimistischer Optimist zu sein. Dies bedeutet, dass wir uns nicht vor der Komplexität der Realität scheuen und die Widersprüche und Ambiguitäten aushalten, ohne in simplifizierende Ideologien zu verfallen. Wir können lernen, solche Auseinandersetzungen sowohl intrapsychisch (also in uns selbst) als auch interpersonell (mit anderen Menschen) auszutragen. Im Wissen, dass niemals die eine Seite ganz gewinnen oder ganz verlieren würde.

 

Das chinesische Sinnbild des Ying-Yang-Kreises symbolisiert mir diese ständige Bewegung. Da drehen sich zwei Kreise ständig umeinander, ein weißer und ein schwarzer. Doch im Mittelpunkt des weißen Kreises ist ein schwarzer Punkt, und im Mittelpunkt des schwarzen Kreises ist ein weißer Punkt. Das heißt: Das Weiße hat schon immer das Schwarze in sich und das Schwarze das Weiße. Es gehört zum Weltengang, dass es niemals nur Helles geben wird und niemals nur Dunkles.

 

Zu dieser ausbalancierten inneren Haltung gehört auch der Humor. Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Das Lachen, vor allem das Lachen über sich selbst, ist das Befreiendste, was es gibt. Gerade in der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit bewirkt ein Witz oder die Erkenntnis, wie unglaublich absurd alles ist, Wunder. So gleicht das Lachen den Ernst aus. Und das Leben wird wieder leichter.

 

Dazu gehört ebenfalls Bescheidenheit und Demut. Wenn man mit hohen Idealen ans Werk geht, ist man meist nicht besonders demütig. Man will ja schließlich die Welt retten. Das Leben schleift einem dann den Hochmut und die Überheblichkeit ab. So dass man am Ende sich damit begnügt, kleinere Brötchen zu backen. Das, was realistisch erreichbar ist, zu tun. Und dankbar zu sein für die kleinen Erfolge und Fortschritte, die einem gelingen.

Hilfreich ist auch, sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen, so dass man sich gegenseitig stützen und Mut zusprechen kann. Gemeinsam lassen sich auch Projekte anschieben, die einem Einzelnen illusorisch erscheinen.

Wir können nicht die Welt retten. Aber wir können das, was in unserem Lebenskreis und in unseren Möglichkeiten steht, tun.

Howard Thurman, ein afro-amerikanischer Pfarrer und Bürgerrechtler, hat folgendes gesagt: „Don’t ask what the world needs. Ask what makes you come alive, and go do it. Because what the world needs is people who have come alive.“ (Frage nicht danach, was die Welt braucht. Frage nach dem, was dich lebendig macht, dann tue es. Denn was die Welt braucht, sind Menschen, die lebendig geworden sind.)

 

Victor Chu
Dr. med. Dipl. Psych.

 

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